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HERRSCHAFT/1824: Kevin Kühnerts Kritik - Kapital, Eigentum und Politik ... (SB)



Wir können nicht mehr die Aufgabe übernehmen, das Ganze berechenbar zu machen. Die Herrschaft der Ökonomie ist die Herrschaft des Elends, weil alles dem Kalkül unterworfen wird. Das Schöne an den Blockaden in den Straßen und allem, was wir seit drei Wochen getan haben, liegt darin, daß wir in gewisser Weise bereits siegreich sind, weil wir in dem Moment aufgehört haben zu zählen, als wir damit begonnen haben, aufeinander zu zählen.
Prochaine Station: Destitution [1]

So plakativ die Aussage des Juso-Chefs "Ohne Kollektivierung ist eine Überwindung des Kapitalismus nicht denkbar" erscheinen mag, so sehr trifft sie ins Mark des privatwirtschaftlich organisierten Kapitalismus. Dieser hat inzwischen nicht nur aus Gründen sozialer Gerechtigkeit, sondern auch ökologischer Nachhaltigkeit Legitimationsprobleme. So können die unterirdischen Reaktionen auf Kühnerts Aussage auch als Lackmustest für den Stand des gesellschaftlichen Vermögens verstanden werden, der alles Leben bedrohenden Naturzerstörung wirksam entgegenzutreten. Da jeder, der die Problematik eingehender studiert hat, weiß, daß es einer fundamentalen Veränderung in Produktion und Konsum auf globaler Ebene bedarf, um die Klimakatastrophe zu verhindern, fehlen den SachwalterInnen herrschender Verhältnisse schlicht die Argumente, mit denen Kühnert als Schaumschläger zu überführen wäre. Ihre polemischen Ausfälle gegen seine Person wirken wie eine Notwehrhandlung ohne Sinn und Verstand, um den Eigentumvorbehalt gegen die systematische Beendigung eines Ressourcenverbrauchs, der über die Befriedigung existentieller Grundbedürfnisse aller Menschen hinausgeht und die stoffliche Basis des Klimawandels zugunsten eigener Überlebensvorteile ignoriert, zu verteidigen.

Ganz unabhängig davon, ob die Aussage Kühnerts als Neuauflage der PR-technisch inszenierten Radikalität eines früheren Juso-Chefs namens Gerhard Schröder zu verstehen ist, der, als er erst einmal ins Kanzleramt gelangt war, dem neoliberalen Kapitalismus mit sozialer Repression und Entfesselung der Marktkräfte Flügel verlieh, oder vielleicht doch ernst gemeint sein sollte, so hat er damit den Finger in die Wunde des zentralen gesellschaftlichen Gewaltverhältnisses gelegt. Dessen NutznießerInnen müssen nichts mehr fürchten als den unverbrüchlichen Widerstand von Menschen, die erkannt haben, daß Wettbewerb und Konkurrenz, Spaltung und Trennung gleichermaßen die Negation einer Machtfrage meinen, die nicht zu stellen die Konstante jeder selbstgewählten Unterwerfung ist. Zweifellos als Terminus technicus gemeint, birgt die Kollektivierung oder Vergesellschaftung der Produktionsmittel doch den inhaltlichen Kern eines Zusammenhaltes, der mit opportunistischen oder zweckrationalen Erwägungen nicht herzustellen ist.

Im Spiegel gegebener Mehrheits- und Eigentumsverhältnisse erscheint die Überwindung kapitalistischer Herrschaft von vornherein aussichtslos. Zudem sind viele sozialrevolutionären Erhebungen an internen Kämpfen gescheitert, in denen Ressentiments manifest wurden, die an erster Stelle hätten überwunden werden sollen. Wo der Mensch wie alle anderen Tiere zuerst aufs Fressen guckt und die Moral nicht einmal ignorien muß, weil der Druck der Beschuldigung und Bezichtigung allemal an den Fleischtöpfen entsteht, da sind Gründe für haltbare und unbestechliche Solidarität schwer zu finden. Diese auf praktisch voraussetzungslose Weise herzustellen, ohne die zuvor kalkulierten Möglichkeiten des Gewinnens oder Verlierens, des Erfolges oder Scheiterns zur Bedingung des Zusammenhaltes zu machen, könnte ein Schritt über die zwingende Not stoffwechselgebundener Konkurrenzverhältnisse hinaus sein.

Nicht umsonst taucht der Begriff des Kollektiven fast nur noch im Kompositum "Zwangskollektivierung" auf. Wann immer das Scheitern der DDR zur Legitimation der BRD herhalten muß, werden Vergemeinschaftungsprozesse als solche dämonisiert. Der christlich fundierte bürgerliche Rechtsstaat nährt zwar den Glauben an nicht vom Kapitalverhältnis kontaminierte Werte, baut jedoch im gleichen Atemzug auf das Prinzip sozialdarwinistischer Individuation als zentrales Moment leistungsorientierter Vergesellschaftung. Die Überwindung der Einsamkeit ist ein bürgerlicher Traum, der in kulturindustrieller Dauerrotation seine nicht gelingende Verwirklichung in Ehe und Familie vergessen machen soll. Gerade weil diese Institutionen gesellschaftlicher Reproduktion den Vereinzelungsstrategien der Konkurrenz und Denunziation offenstehen, genießen sie als vertragsrechtlich organisierte Inkubatoren des Nachwuchses für Fabrik, Büro und Militär besonderen Schutz. Wie sich manche in Deutschland geborene Menschen ihre Staatsbürgerschaft als besonderes, zu exklusiven Privilegien berechtigendes Verdienst an die Brust heften, sind sie auch sonst bereit, den eigenen Vorteil zum Leitkriterium aller Kontakte und Beziehungen zu machen.

Kollektivität hingegen ist offen für jeden Menschen, der grundsätzliche Veränderungen und unumkehrbare Grenzüberschreitungen anstrebt. Kein Staat, keine Nation, keine Klasse, kein Geschlecht, keine Hautfarbe, keine Spezies - wo die Grenzen der Negation des Trennenden und Teilenden verlaufen, findet heraus, wer sie durch aktive Überwindung in Anspruch nimmt. Eigentlich hat Kevin Kühnert nur etwas völlig Naheliegendes, den Herausforderungen sozialer wie ökologischer Art völlig Angemessenes gesagt. Doch mußte er gleich zum verfemten Begriff der "Kollektivierung" greifen? Hätte er es nicht getan, dann wäre nicht einmal ein Sturm im Wasserglas ausgebrochen, geschweige denn aus seinen Wellen das längst überwunden geglaubte Gespenst der Revolution aufgetaucht.


Fußnote:

[1] In eigener Übersetzung aus:
lundimatin 168, le 7 décembre 2018
https://lundi.am/Prochaine-station-destitution

8. Mai 2019


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