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HERRSCHAFT/1889: Gesellschaftliche Verhältnisse - die Macht der Straße ... (SB)



Langsam dämmert den Menschen, daß das erhoffte Ende der Pandemie in weiter Ferne liegt und es ein danach, das nahtlos an das davor anknüpft, nicht mehr geben wird. Gegen den Ausbau antidemokratischer Maßnahmen zu protestieren, ohne eine gesellschaftliche Alternative vorzuschlagen, in der sozial gerechtere Praktiken des Arbeitens und Lebens die Basis kollektiver Problembewältigung bildete, baut jedoch auf die Hoffnung, daß der liberale Rechtsstaat, die bürgerliche Demokratie und privatwirtschaftliche Eigentumsordnung mit allen gegebenen Formen von Zwang und Gewalt erhalten bleiben. Das Leben auf Kosten anderer fortzusetzen, das diese Staatsform im Kern ausmacht, würde in eine Zukunft führen, in der keines der aus Ausbeutung und Zerstörung resultierenden existenzbedrohenden Probleme überwindbar erscheint, obwohl die Notwendigkeit, dies zu schaffen, immer mehr anwächst.

So sehr es gilt, neuen Formen staatlicher Emächtigung einen Riegel vorzuschieben, so wenig ist die Coronapandemie ein in den Köpfen von PolitikerInnen und WissenschaftlerInnen entstandenes Hirngespinst. Die dagegen gerichteten Maßnahmen als übertrieben zu verwerfen ist nicht nur rücksichtslos gegenüber den von COVID-19 bedrohten Personenkreisen. Das Insistieren auf einen gesellschaftlichen Normalzustand, den als Herrschaft der EigentümerInnen über die Klasse lohnabhängiger, prekär lebender und vollends abgehängter Menschen darzustellen nach wie vor Gültigkeit besitzt, schürt mit der Verharmlosung des Problems die sozialeugenische Logik, laut der ältere und kränkere Menschen verzichtbar seien, weil sie wenig zum gesamtgesellschaftlichen Produkt beitragen und vor allem als Kostenfaktoren ins Gewicht fallen.

Wir befinden uns in einer neuen Ära des Beurteilens menschlicher Existenz nach Lebenswertkategorien [1]. Was aufgrund der NS-Vergangenheit lange Zeit als relevanter Einwand gegen die Definitionshoheit sozialökonomischer Kriterien über das Leben behinderter, schwerkranker und älterer Menschen Bestand hatte, verwandelt sich unter dem Druck des Quarantäneregimes in einen Aktivposten jenes betriebswirtschaftlichen Denkens, das menschliches Leben nach Input- und Outputfaktoren gesamtgesellschaftlich bilanziert. Insofern liegen die Positionen der sogenannten Coronarebellen und der Bundesregierung nicht so weit auseinander wie es erscheint - im Vordergrund des Lostretens eines neuen Wachstumsschubes steht der Erfolg des Standortes Deutschland und die Aufrechterhaltung der imperialen Lebensweise. Sie garantiert Privilegien, die die kapitalistische Verwertung von Mensch und Natur vor allem im Globalen Süden voraussetzen, was schon im gesellschaftlichen Normalbetrieb gerne vergessen wird, in der Coronakrise allerdings kaum noch als Problem erscheint, da dieser Schock dem Denken und Planen in nationalen Kategorien erheblichen Aufschub verschafft hat.


Unter dem Brennglas der Krise Konturen neuer Kämpfe

Was könnten die AktivistInnen gegen Kapital und Patriarchat einem Protest entgegenhalten, dessen TrägerInnen anscheinend erst jetzt entdeckt haben, daß Staaten autoritär agieren, und dies auch noch zum Anlaß nehmen, die eigenen Privilegen weißer, meist männlicher Sozialisation mit der Verfolgung jüdischer Menschen durch das NS-Regime in eins zu setzen? Über das Zurückweisen derart aberwitziger wie ahistorischer Vergleiche und die Kritik an einem Liberalismus, der nicht viel mehr als die Freiheit zu bieten hat, die eigene Haut auf den Arbeitsmarkt zu tragen, um die Angebote der Konsumgüter-, Unterhaltungs- und Tourismusindustrie in Anspruch nehmen zu können, hinaus wäre zu fragen, ob die Zäsur der Pandemie tatsächlich dazu führt, linken Forderungen und Positionen mehr Gehör zu verschaffen.

Was auf den ersten Blick einleuchtet, weil die Coronapandemie die Unvereinbarkeit der kapitalistischen Verwertungslogik mit den Lebenserfordernissen der Menschen auf drastische Weise sichtbar gemacht hat, wirft beim zweiten Blick die Frage auf, ob angesichts der anwachsenden existenzbedrohenden Probleme nicht vor allem die Neigung, nun erst recht bei regressiven und reaktionären Überlebenskonzepten Zuflucht zu suchen, Raum greift. So ist die Coronapandemie, auch wenn zugunsten des Entfachens eines neuen Wachstumsschubes ein anderer Eindruck erweckt wird, alles andere als vorbei. Die Gefahr einer Infektion wird auf lange Zeit Bestand haben, und das Erreichen der Immunität dürfte, wenn sie nicht mehr als ein oder zwei Jahre anhält, nur vorübergehend weiterhelfen.

Neben dieser endemisch werdenden Bedrohung und der Möglichkeit des Ausbrechens weiterer Pandemien bleiben Klimawandel und Naturzerstörung unbewältigt, zumal weltweit die Neigung besteht, selbst das Erreichen der ungenügenden Ziele des Paris-Abkommens auf die lange Bank zu schieben, um weiterhin die Produktivkraft fossiler Brennstoffe nutzen und die ökologischen Kosten der Warenproduktion externalisieren zu können [2]. All das ist von der sozialen Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Klassengesellschaft nicht zu trennen, sondern bedingt einander auf vielfältige Weise.

Wenn es einer globalen Krise bedarf, um zu erkennen, daß die zur Versorgung der Menschen mit Nahrungsmitteln und medizinischen Leistungen verrichtete Arbeit unverzichtbar ist, dann liegt die Vermutung nahe, daß das besondere Lob der ArbeiterInnen im Dienstleistungssektor einer großangelegten Beschwichtigungskampagne zuarbeitet. Die Abwälzung der Kosten der Krise auf die erwerbsarme und geringverdienende Bevölkerung soll auch in Zukunft funktionieren, anstatt den ArbeiterInnen die Erkenntnis zu gönnen, daß sie über die Macht verfügen, den Betrieb zu stoppen, eigene Forderungen zu erheben und die gesellschaftliche Produktionsweise nach eigenen Vorstellungen zu verändern. Wenn das Gros der nun freigesetzten Geldmittel, wie geplant, den güterproduzierenden und finanzwirtschaftlichen Industrien zugute kommt, ändert sich an den elementaren Klassenwidersprüchen nichts.

Gerade das wäre ein Vorhaben, für das sich die parlamentarische wie außerparlamentarische Linke stark machen könnte. Sie könnte Streiks und Massenmobilisierungen organisieren, anstatt das Feld der Arbeitskämpfe Einheitsgewerkschaften zu überlassen, die sozialpartnerschaftlich anstatt sozialistisch agieren. Die unbezahlte Sorgearbeit zu Hause wie die gering entlohnte Pflegetätigkeit in der Kranken- und Altenpflege massiv aufzuwerten widerspricht dem Modell des industriellen Kapitalismus, dessen Mehrwertproduktion vor allem in den Fabriken und am Weltmarkt erwirtschaftet wird. Eine sozial gerechtere Verteilung des Gesamtproduktes zu erreichen erforderte mithin, die privatwirtschaftliche Eigentumsordnung und die patriarchale Definitionsmacht über die Organisation der Gesellschaft grundlegend infrage zu stellen.

Das trifft nicht minder zu auf das größere Problem der Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Der häufig erwähnte Rückgang an CO2-Emissionen ändert an der Zunahme des Gehaltes von CO2 in der Atmosphäre fast nichts, da es sich um ein träges System mit starker zeitlicher Verzögerung handelt. Zugleich deutet das weltweite Krisenmanagement darauf hin, daß ein neuer Aufschwung fossiler Energieerzeugung und ökologisch insuffizienter Produktionsweisen bevorsteht. Die Aussetzung von Umweltgesetzen für Schlüsselindustrien in den USA, die Forderung nach einem Aufschub der Düngemittelverordnung für die deutsche Landwirtschaft oder der Bau neuer Kohlekraftwerke in China sind nur drei von vielen Beispielen, aus denen hervorgeht, daß die Rückkehr zu den Akkumulationsbedingungen vor der Pandemie weit mehr als nationale Aufgabe betrachtet wird als der Schutz einer Natur, deren Niedergang für viele Menschen finale Folgen haben könnte. Nicht auszunehmen von dieser Kritik sind großdimensionierte grüne Technologien, die dem Pfad kapitalistischer Akkumulation folgen. Wenn deren stofflicher Bedarf die ökologische Bilanz aufzehrt und im Ergebnis E-Mobile über Autobahnen fahren, die unter erheblichem Baustoff-, Energie- und Flächenbedarf errichtet wurden, werden die anspruchsvollen Reduktionsziele, derer es bedarf, um die Klimakrise in halbwegs erträglichen Maßen zu halten, allemal verfehlt.

So wie COVID-19 nicht alle Menschen gleichermaßen befällt, sondern zwischen dem Schutz, den ein gutversorgter Haushalt auf großzügig bemessener Wohnfläche bietet, und der Angreifbarkeit von Menschen, die unter den eng gepackten Bedingungen eines Slums in Hütten ohne Strom und fließend Wasser leben, Welten höchst unterschiedlicher Überlebenswahrscheinlichkeit liegen, so ist der ökologische Niedergang weniger ein Menschheitsproblem, als daß er einen sozial differenzierten Angriff auf ganz verschiedene Lebenswelten und Reproduktionspraktiken darstellt. Wer in der Nähe einer stark befahrenen Straße oder eines Zuchtbetriebs für sogenanntes Schlachtvieh lebt, ist mit krankmachenden und lebensverkürzenden Bedingungen konfrontiert, denen besser verdienende Menschen ohne weiteres ausweichen können, indem sie ein Haus in geschützter Lage erstehen. Der gleiche Klassenwiderspruch betrifft gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen, die in vielen Betrieben und Berufen nach wie vor für erhebliche Einbrüche in der durchschnittlichen Lebenserwartung und für eine permanente Beeinträchtigung psychophysischen Wohlbefindens sorgen.

Der Zusammenhang zwischen Pandemieentstehung, Landnutzung und Produktionsweise bietet ein zusätzliches Argument dafür, vom massiven Verbrauch an fossiler Energie, dem Einsatz von Umweltgiften, der Schädigung des Trinkwassers, der Belastung der Atemluft, der Monopolisierung des Saatgutes und der Zerstörung der Böden durch mineralischen Dünger wegzukommen, indem die industrielle Landwirtschaft und intensive Tierhaltung durch kleinbäuerliche Produktionsweisen und biologische Anbauverfahren ersetzt wird. Auch das ist ein wichtiges Feld linker Mobilisierung, wie die in aller Welt geführten Kämpfe zwischen indigenen Bevölkerungen, selbstorganisierten BäuerInnen und UmweltaktivistInnen gegen diejenigen transnationalen Konzerne zeigen, in deren Händen sich die Verfügungsgewalt über die Ernährung der Menschen befindet.

Ohnehin stellen die Annäherung an indigenes Wissen und die Kritik technologisch induzierter Modernisierungsoffensiven wertvolle Bindeglieder zu Sichtweisen bereit, auf die nicht aus falsch verstandenem Materialismus oder eurozentrischer Weltsicht verzichtet werden sollte [4]. Die auf vielen Feldern der Politik und Kultur vorangetriebenen Dekolonisierungsinitiativen mögen den Nachteil eines Defizites an materialistischer Analyse und Kritik haben, eröffnen jedoch kritische Perspektiven auf das Fortschrittsverständnis der europäischen Aufklärung und Moderne, die den Horizont erweitern und die Schlagkraft der Argumente verstärken können. Schließlich finden sich unter indigenen AktivistInnen radikale BündnispartnerInnen für die Stärkung internationalistischer Zusammenarbeit [5].


Aus virtueller Unsichtbarkeit hervortreten ...

Da die absehbare Zukunft für immer größere Kreise der Bevölkerung angstbesetzt ist und der Sturm im Wasserglas gespannter Erwartungen auf neue Gewinnchancen an der Börse nicht über die Flaute hinwegtäuschen kann, in der das kapitalistische Weltsystem dümpelt, weil seine immanente Überproduktion auf immer weniger geldwerte Nachfrage stößt, sollten Menschen, die diesen Zustand auf unumkehrbare Weise überwinden wollen, nicht zu bescheiden auftreten. Während das Erstreiten von Zugeständnissen an die Lohnabhängigenklasse notwendig und erforderlich bleibt, ist die Überwindung der privatwirtschaftlichen Eigentumsordnung durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel zugunsten selbstorganisierter Formen und Praktiken des Lebens und Arbeitens ein Ziel, dessen Relevanz für die Bewältigung unabgegoltener Klassenkämpfe wie kommender Krisen nicht hoch genug zu schätzen ist.

Um den kleinen Spalt zu nutzen, der sich krisenbedingt für Veränderungen im Gesellschaftsgetriebe aufgetan hat, empfiehlt es sich, nicht vor dem Wort "Sozialismus" zurückzuschrecken, nur weil es in eine ideologische Waffe zur Unterdrückung emanzipatorischer und revolutionärer Forderungen verwandelt wurde. Es durch das Präfix "Öko-" zu ergänzen macht allemal mehr Sinn als unbestimmter von Postkapitalismus oder Neosozialismus zu sprechen. Für die verschiedenen Entwürfe einer ökosozialistischen Gesellschaft ist reichhaltiges Diskussionsmaterial vorhanden [6], wobei dieser Diskurs keinesfalls im Widerspruch zu sozialrevolutionären, queerfeministischen, antirassistischen, antikolonialistischen, antispeziesistischen und intersektionalen Handlungsvorgaben stehen muß, ganz im Gegenteil. Die hochgradig ausdifferenzierte Landschaft linker Theoriebildung in Anspruch zu nehmen, ohne an ihren trennenden Eigenschaften zu scheitern, sollte desto weniger zum Problem werden, als die Tiefe der Krise zu kollektiver und solidarischer Handlungseinheit ermutigt.

Die mit der Quarantäne aufgekommene Isolation vieler AktivistInnen kann durch das Abhalten von Webinaren und virtuellen Demos kaum aufgebrochen werden. Die konkrete Bemächtigung der Straße, das Verhindern von Zwangsräumungen, die Durchsetzung von Streiks, Betriebs- und Hausbesetzungen sind Aktionsformen, an denen die kollektive Kampfkraft einer entschlossenen Opposition vor allem auch von deren GegnerInnen gemessen wird. Wollte sich die parlamentarische Linke nicht als Mehrheitsbeschafferin lodengrüner Biedermeier unter Wert verkaufen und Revolutionäre Realpolitik nicht zur Ausrede für das Einschwenken auf den parlamentarischen Klassenkompromiß verkommen lassen, dann wäre die programmatische Hinwendung zu einer ökosozialistischen Agenda sicher auch für sie hilfreich. Ob innerhalb der Institutionen staatlicher Macht oder auf dem harten Boden gesellschaftlicher Realität, die Eigentumsfrage bleibt zentral für eine Linke, die sich der sozialdarwinistischen Logik einer Welt entgegenstellt, in der der räumliche Abstand zur nächsten Hungerkatastrophe immer weiter schrumpft, während deren Opfer um so wirksamer ausgeblendet werden.


Fußnoten:

[1] http://schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1883.html

[2] https://thomas-fritz.org/default/pandemie-im-treibhaus-der-kampf-der-fossilen-industrie-gegen-ihre-entwertung?fbclid=IwAR3CBmD8Q6_xKPmHB66-ZtIUrK1e6z5cNvuQ1gM235ZrH35MGHD2SRbFxxY

[3] https://www.sum.uio.no/forskning/blogg/terra-nullius/covid-19-reminds-us-that-our-food-production-might-kill-us.html

[4] https://www.documenta14.de/de/south/895_den_oekozid_genozid_komplex_beschreiben_indigenes_wissen_und_kritische_theorie_in_der_finalen_phase

[5] http://therednation.org/?fbclid=IwAR2CS_Drk9Yz5x0YvIriV5IaUmJAQ22kBdsr02N7MXsXsxhDox5PSi-Q2RQ

[6] https://intersoz.org/die-kapitalistische-zerstoerung-der-umwelt-und-die-oekosozialistische-alternative/

19. Mai 2020


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