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HERRSCHAFT/1895: Da ist guter Rat Schäuble ... (SB)



Um sich bei Extremisten nicht anzustecken, rät Wolfgang Schäuble dazu, physisch und politisch Abstand zu halten. Wenn es nach dem Bundestagspräsidenten geht, bedarf die Bevölkerung nicht nur der Beratung bei der Auswahl dessen, was sie sich intellektuell zumutet, sondern auch eines ideologischen Quarantäneregimes, um nicht an der von ihm vertretenen Sicht der Dinge zu zweifeln. Dekretiert von der Position des obersten Sachwalters der parlamentarischer Demokratie im protokollarisch zweithöchsten Amt der Republik kommt Schäubles Weisung das Gewicht einer Definitionsmacht zugute, der gegenüber die von ihm ins Abseits des demokratischen Diskurses verwiesenen Extremisten zwar nichts Vergleichbares aufzubieten haben, die sie jedoch in einem Maße aufwertet, für das sie sich nur bei ihm bedanken können.

Was dem Bürger erst gesagt werden muß, weil er, so der dem Schäubleschen Paternalismus implizite Anwurf, nicht über genügend Gehirn verfügt, um zu erkennen, daß die Leugnung der Coronapandemie oder eine auf die Person von Bill Gates verkürzte Systemkritik fernab jeder hieb- und stichfesten Argumentation liegt, schlägt als Ausfluß der Staatsräson in eine ihrerseits abwegige Sprachregelung um, laut der Kritik an Personen aus den Führungsetagen des transnationalen Kapitals per se verwerflich und rechtsoffen ist. Der aus dem Diktum Schäubles und der flankierenden Berichterstattung über Verschwörungstheorien aller Couleur resultierende Schulterschluß zwischen regierungsamtlicher Ideologieproduktion und linker Opposition ist seinerseits ein kaum hoch genug zu schätzender Erfolg der herrschenden Burgfriedenspolitik.

Wer heute noch den Namen Bill Gates, und sei es auf faktisch gut begründete Weise, in den Mund nimmt, riskiert sich in Gesellschaft der Neuen Rechten und einer nationalchauvinistischen Globalisierungskritik wiederzufinden, der der Erfolg des Standortes Deutschland über alles geht und die daher vor keiner Variante ressentimentgeladener Feindbildproduktion zurückschreckt. Auch wenn Schäubles "politische Abstandsregeln" in keiner Weise eine Annäherung an linke Kapitalismuskritik nahelegen, zumal linker Antikapitalismus in sozialwissenschaftlichen Kreisen als verschwörungstheoretische Disposition gehandelt wird, hat er aus dem Lager ihrer gestandenen VerfechterInnen unerwartete Unterstützung erhalten. Anstatt bei der Kritik an Bill Gates oder anderen UnternehmerInnen zwischen materialistischer Kapitalismusanalyse und der quasireligiösen Überhöhung einzelner Menschen zum Inbegriff allen Übels zu unterscheiden, kann die Nennung seines Namens dazu ausreichen, zur DisputantIn non grata erklärt zu werden.

Jahrzehnte der Aufklärungsabeit sozialer Bewegungen und entwicklungspolitischer Organisationen über die in vielen Fällen zwar altruistisch wirkende, aber bei der Verwertung ihrer diversen Forschungs- und Entwicklungsprojekte auf ganz konventionelle Weise eigennützig wirtschaftende Bill & Melinda Gates Foundation drohen ebenso im Giftschrank eines Gesinnungsverdachtes zu verschwinden wie die Grundsatzkritik antikapitalistischer AktivistInnen an der eigenmächtigen Durchsetzungskraft weltweit operierender Konzerne. Gerade in den letzten Jahren wurde viel Kritik am philantrophischen oder karitativen Kapitalismus geübt, deren UrheberInnen sich zumindest darin einig sind, daß die Entscheidungsgewalt über zentrale gesellschaftliche Fragen wie die der Organisation des Gesundheitswesens, der Erforschung lebenswichtiger Medikamente, des Ausbaus der digitalen Infrastruktur, der Entwicklung pädagogischer Konzepte für das IT-Zeitalter und der Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtproduktes in die Hände demokratischer Institutionen und nicht die dem Eigeninteresse verpflichteter UnternehmerInnen gehört.

Wenn Hilfsorganisationen wie Brot für die Welt, Global Policy Forum und Misereor in der Studie "Philanthropic Power and Development" [1] den Einfluß der Bill & Melinda Gates Foundation auf die globale Landwirtschaft kritisch beleuchten, wenn die linksliberale US-Zeitschrift The Nation unter dem Titel "Bill Gates's Charity Paradox" [2] ausführlich die moralischen Inkonsistenzen der Stiftungsarbeit untersucht, wenn das Portal German-Foreign-Policy.com über "Philanthropie als Geschäft" [3] am Beispiel der Zusammenarbeit zwischen der Stiftung und der Bundesregierung berichtet, wenn Thomas Konicz die schillernde Blüten treibende Fantasie mancher Menschen über dämonische Strippenzieher der "Neuen Weltordnung" auf die Füße einer wert- und ideologiekritischen Kapitalismusanalyse [4] stellt, ist schon anhand dieser Beispiele aus der Fülle des zum Philanthrocapitalism und daraus resultierender Mythenbildung verfaßten Materials zu erkennen, daß es auch anders geht.

Schließlich ist die mehr oder weniger radikale Linke nicht ganz unbeteiligt an dem Aufwind, in den regressive Herrschaftskritik im Gefolge der staatlichen Maßnahmen gegen die Coronapandemie geraten ist. Die seit Beginn der Pandemie weit klaffende Leerstelle linker Antirepressionsarbeit und Staatskritik korrespondiert mit dem aus den sogenannten Hygienedemos hervorgegangenen Potential einer neuen Pegida-Bewegung auf merkwürdige Weise, wenn Sprachregelungen aus dem Bundeskanzleramt und den bürgerlichen Medien eins zu eins übernommen werden, um abstrusen Welterklärungsgeschichten wie der Verteidigung des Rechtes auf schrankenlosen Konsum auch in Pandemiezeiten entgegenzutreten. Dies findet weniger auf den Gegendemos statt, mit denen die Aufmärsche der sogenannten Coronarebellen konfrontiert werden, als in sozialen Netzwerken, worin sich das Gros des verbliebenen linken Diskurses verlagert hat.

Da diese Krise des schon zuvor tief in seiner Reproduktionsfähigkeit erschütterten Kapitalismus längst nicht vorbei ist, sondern hinsichtlich der absehbaren wirtschaftlichen Einbrüche und sozialen Nöte gerade erst Fahrt aufgenommen hat, kann die Kritik an der Neuen Rechten und ihren BündnispartnerInnen nicht der Bundesregierung oder einem Bundestagspräsidenten überlassen bleiben, der noch vor kurzem gezeigt hat, wie gut er die sozialeugenische Konsequenz einer Krise verstanden hat, deren gesellschaftliche Transformationskraft niemanden unbeschadet läßt [5].

Den darum zu führenden Diskurs pauschal mit dem Stempel "Verschwörungstheorie" zu versehen, der bei aller Relevanz der Kritik an den regressiven Rationalisierungen herrschender Gewaltverhältnisse wie ein große Staubsauger wirkt, dessen Lärm die ohnehin vorherrschende Sprachlosigkeit noch verstärkt, überließe den Raum gesellschaftlicher Deutungsmacht und politischer Hegemonie ohne Not womöglich denjenigen, denen an erster Stelle entgegenzutreten ist. Der in Jahrzehnten mit allen taktischen und strategischen Finessen des Regierungshandelns vertraute Schäuble jedenfalls wäre der letzte, der dagegen Einwand erhöbe.


Fußnoten:

[1] https://www.brot-fuer-die-welt.de/fileadmin/mediapool/2_Downloads/Fachinformationen/Sonstiges/study_philanthropic_power_and_development.pdf

[2] https://www.thenation.com/article/society/bill-gates-foundation-philanthropy/

[3] https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8285/

[4] https://www.heise.de/tp/features/Die-Verbrechen-des-Bill-Gates-4727474.html

[5] https://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1883.html

28. Mai 2020


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