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HERRSCHAFT/1897: USA - Aufstand in den Städten ... (SB)



Erst vier Tage nach dem 25. Mai, als der Polizeibeamte Derek Michael Chauvin den Afroamerikaner George Perry Floyd langsam und unter den Augen zahlreicher Passanten, die das Geschehen beobachteten ohne einzugreifen, ums Leben brachte, wurde ein Haftbefehl gegen den Täter vollstreckt und Anklage nicht wegen eines im Vorsatz begangenen Mordes, sondern Totschlages erhoben. Im Bundesstaat Minnesota, wo Weiße 85 Prozent der Bevölkerung stellen und die soziale Ungleichheit zwischen den Ethnien besonders ausgeprägt ist, ist es überhaupt das erste Mal, daß gegen einen weißen Polizisten wegen der Tötung eines nichtweißen Menschen Anklage erhoben wird, obwohl solche Vorfälle dort nicht weniger häufig sind als in anderen Bundesstaaten.

Wäre es nach der zuständigen Staatsanwaltschaft gegangen, dann wäre es auch nicht dazu gekommen. Diese kaum anders denn als offenkundiger Mord zu bezeichnende Tat wäre wie viele andere Fälle, in denen Schwarze von weißen Polizisten oder selbsternannten Bürgerwehren erschossen wurden, ohne daß es zu einer Anklage oder einem Strafurteil kam, in den vor vergessenem Unrecht überquellenden Schubladen des Alltagsrassismus in den USA verschwunden. Es bedurfte eines regelrechten Aufstandes, um den Zorn der Menschen auf eine Weise zu artikulieren, die schließlich zur Anklageerhebung und Verhaftung Chauvins führte. Die drei bei der Tat anwesenden Kollegen sind weiterhin frei, obschon unterlassene Hilfeleistung das mindeste wäre, was ihnen angelastet werden könnte.

"No Justice, No Peace!" - immer wieder, wenn Schwarze durch die Hände weißer RassistInnen sterben, macht dieser vielstimmige Ruf deutlich, daß eine wehrlose Hinnahme dieses und weiterer Morde nicht zur Disposition steht. Das geltende Recht wird allerdings von der Justiz einer mehrheitlich weißen Klassengesellschaft vollzogen und ist in sich selbst zutiefst rassistisch strukturiert. Gleiches gilt für das monströse Strafvollzugsystem, das 2,3 Millionen Menschen ihrer Freiheit beraubt, 3,6 Millionen Entlassene mit Bewährungsauflagen versehen hat, deren Bruch sofort zurück in den Knast führt, und fast 5 Millionen ehemalige Häftlinge durch verschiedene Formen des Entzuges von Bürgerrechten auch noch Jahre nach ihrer Entlassung sanktioniert. Schwarze sind von der einschüchternden, lähmenden und jeden Widerstand mit folterartigen Isolationsmaßnahmen strafenden Gewalt dieses Systems weit überproportional betroffen, also auch in der Freiheit ihrer politischen Betätigung stark eingeschränkt.

Der soziale Krieg, der permanent gegen ethnische Minderheiten und andere marginalisierte Gruppen der US-Gesellschaft geführt wird, dient der Aufrechterhaltung massiver sozialer Ungleichheit, deren rassistischer Charakter in zahlreichen damit befaßten sozialwissenschaftlichen Studien bestätigt wurde. Der Glaube daran, vor Gerichten Recht zu erhalten und soziale Widersprüche auf juristischem Wege beseitigen zu können, wird zwar von den politischen und kulturindustriellen Ideologieschmieden mit großer Überzeugungskraft beschworen, jedoch durch die soziale Wirklichkeit der US-Gesellschaft überzeugend widerlegt.

Die Bereitschaft, nun schon mehrere Tage währenden Widerstand zu leisten und sich nicht durch die Verurteilung militanter Aktionsformen auf eine Weise lähmen zu lassen, die eine wirksame Spaltung des Protestes ermöglichte, zeigt, daß der Boden des Fasses, aus dem sich diese Wut speist, längst noch nicht erreicht ist. Angesichts der furchteinflößenden Staatsgewalt kann die starke Beteiligung an den Protesten nur als Beleg dafür genommen werden, daß es sich bei diesem Aufstand um einen Befreiungsschlag handelt, der für zahlreiche Menschen, die gerade in Zeiten der Pandemie mit dem Rücken zur Wand stehen, gleichbedeutend ist mit dem Kampf um ihr Leben.

Militante Protestformen haben in den USA eine lange Geschichte. So wurde der Abzug der US-Truppen aus Vietnam nicht nur gewaltfrei erreicht, und auch viele andere sozialen Proteste der jüngeren US-Geschichte, die mit Straßenschlachten gegen die Polizei einhergingen, hatten eher den Charakter einer Initialzündung für das Entstehen selbstbewußt auftretender Gegenbewegungen, als daß die militante Option von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Entscheidend war stets, daß keine Gewalt gegen Menschen ausgeübt wurde, denn danach wäre eine blutige Eskalation womöglich nicht mehr zu stoppen gewesen.

Dazu allerdings kam es immer wieder nach den Aufständen empörter Schwarzer, die zu Dutzenden von der Polizei oder der Nationalgarde erschossen wurden, wenn sich ihr Zorn über die elenden Lebensbedingungen und die massive Unterdrückung durch die Staatsgewalt Bahn brach. Die großen Aufstände der 1960er Jahre, die sich an dem demütigenden, in sozialer Verelendung, räumlicher Segregation und aggressiver Verächtlichkeit hervortretenden Rassismus entzündeten, die landesweiten militanten Proteste nach der Ermordung Martin Luther Kings, der Aufstand in Los Angeles gegen die brutale Mißhandlung Rodney Kings - immer wieder mußten die Protestierenden einen hohen Blutzoll entrichten, um überhaupt Gehör zu finden.

Dennoch ist es kaum zu materiellen Verbesserungen der sozialökonomischen Lage der meisten afroamerikanischen BürgerInnen gekommen. Zwar wurden auf vielen Gebieten formale Gleichstellungsregeln durchgesetzt, und es gibt inzwischen zahlreiche schwarze MandatsträgerInnen auf allen Ebenen von Politik und Verwaltung. Am strukturellen Rassismus in der Praxis vieler Behörden hat das jedoch wenig geändert, sorgt doch die privatwirtschaftliche Eigentumsordnung wirksam dafür, daß vorrangig zum Zuge kommt, wer zahlungsfähig ist. Die formalrechtliche Aufwertung der People of Color in den USA hat dafür eine schwarze Bourgeoisie hervorgebracht, die allzuoft als Legitimationsfaktoren einer Befriedungspolitik auftritt, die virulente und explosive soziale Widersprüche besonders effizient unter die Decke des Schweigens verbannt.

Der afroamerikanische Intellektuelle Cornel West, der in den 1960er Jahren selbst auf der Straße aktiv war, meinte zu der traurigen Tatsache, daß die umstehenden Menschen George Floyd nicht zur Hilfe kamen, daß so etwas zu seiner Zeit gar nicht möglich gewesen wäre. Zum einen habe die Polizei selbst Angst vor dem Widerstand der Menschen gehabt, zum andern habe die Schwelle der Angst vor der Staatsautorität sehr viel niedriger gelegen als heute. Man habe heute Zuschauer aus der schwarzen Bevölkerung gemacht, so das bittere Resümee Wests.

Wie der weitere Verlauf der Proteste gezeigt hat, hat sich die Wut der Menschen auf eine Weise Bahn gebrochen, die den autoritären Sicherheitsstaat mit Mitteln auf den Plan ruft, die an eine echte Kriegserklärung grenzen. Daß die Bereitschaft der Administration, den Befehl zur Anwendung von Schußwaffen zu geben, ihrerseits alles andere als farbenblind ist, dafür bietet die blutige Geschichte weißer Suprematie in den USA auch nach dem offiziellen Ende der Sklaverei eine Vielzahl von Belegen.

Hätten schwarze AktivistInnen heute von ihrem Recht auf Waffenbesitz Gebrauch gemacht und wären schwerbewaffnet vor der Legislative von Minnesota aufmarschiert, dann hätte diese Provokation mit großer Wahrscheinlichkeit zur Anwendung polizeilicher Gewalt geführt. Vor nur wenigen Wochen hatten Hunderte mit halbautomatischen Waffen ausgerüstete weiße Rechtsradikale die Arbeit der Parlamente in Michigan und Wisconsin lahmgelegt, ohne daß es zum Eingreifen der Polizei oder auch nur einer Verhaftung gekommen wäre. Die Zerschlagung der Black Panther Party durch eine Serie staatlich orchestrierter Morde an ihren Anführern war eine mittelbare Folge dessen, daß diese sozialistische Bewegung das Recht auf Waffenbesitz in Anspruch genommen hatte. Es ist wiederum kein Zufall, daß der US-Präsident, der den Demonstrierenden den Einsatz des Militärs gegen sie angedroht hat, unter den Bürgermilizen im Land erheblichen Rückhalt genießt, bei denen es sich mehrheitlich um schwerbewaffnete rechtsradikale Organisationen handelt.

Wie stets in kapitalistisch organisierten Gesellschaften bleibt auch in diesem Fall die strukturelle Gewalt sozialökonomischer Ungleichheit unsichtbar eingegossen in den scheinbaren Frieden gesellschaftlicher Normalität. Werden diese Gewaltverhältnisse durch die am meisten von ihnen Betroffenen gegen sich selbst gekehrt, werden sie als Aggressoren gebrandmarkt, die sich nicht daran gehalten hätten, auf politischem oder juristischem Weg auf ihr Recht zu pochen. Solange es rechtens ist, daß wenige Menschen in jeder Beziehung privilegiert sind, während viele andere ein häufig deutlich kürzeres Leben unter Schmerzen und Entbehrungen fristen, kann gegen dieses Argument kein Einwand erhoben werden.

Der nun in Gedenken an George Floyd laut erklingende Ruf "We can't breathe!" nimmt dessen in höchster Not ausgestoßenen Hilferuf auf, um die bedrückende Situation schwarzer Menschen in den USA auf eindrückliche Weise auf den Begriff zu bringen. Dabei ist nicht zu vergessen, daß der Rassismus in den USA im europäischen Kolonialismus wurzelt und auch in Europa niemals verschwunden ist. Es gibt keinen Grund dafür, aus deutscher Perspektive den Zeigefinger in Richtung USA zu erheben, aber viele Gründe dafür, Solidarität mit den Protestierenden dort zu üben. Die Beteiligung vieler weißer AktivistInnen an den Demonstrationen und die breite Mobilisierung in linksradikalen Gruppen zeigt, daß es bei diesem Aufstand um weit mehr geht als Rassismus. Was aus Anlaß der Ermordung George Floyds losbrach, bedurfte nur eines Funkens wie diesem, um die massive soziale Ungleichheit auf die Agenda zu setzen, die dem weißen Rassismus vorausgeht und zur Explosion des Zornes auf der Seite der Unterdrückten geführt hat.

2. Juni 2020


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