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PROPAGANDA/1325: Vor lauter Neugier blind ... Bilder, die vergessen machen (SB)



"Fritzl zeigt sein Gesicht" frohlockt der Stern (stern.de, 17.03.2009) über das "Ende des Versteckspiels". Nun, da der vom Boulevard zum "Monster" gekürte Angeklagte "das erste Mal sein Gesicht gezeigt hat, das er zuvor immer hinter einem Aktenordner verborgen hatte", gibt alle Welt vor zu wissen, um was für einen Menschen es sich bei dem "Inzest-Täter" handelt. Der Spiegel wartet derweil auf dem Titel seiner aktuellen Printausgabe mit dem Konterfei des Attentäters von Winnenden auf. "Wenn Kinder zu Killern werden", gibt sich die darüber gelegte Zeile schockiert, als ob es normal und akzeptabel wäre, daß sie in einer Kultur des Krieges aufwachsen, in der Ewachsene zu Mördern werden.

Die Welt ächzt und stöhnt unter der Wirtschaftskrise, Hunger und Not fordern täglich Zehntausende Menschenleben, die NATO formiert sich zu einem weltweit einsatzfähigen Interventionsbündnis, das die Interessen eines kleinen Teils der Menschheit unter Einsatz aller Mittel durchsetzen soll, doch die Bundesbürger werden auf auf Sensationen angesetzt, deren Faszinosum aus der Differenz zur Norm gesellschaftlichen Wohlverhaltens resultiert. Das dabei angeblich bediente Interesse an Information und Aufklärung verkommt zur Farce eines zu durchsichtigen Vorwands, als daß er verbergen wollte, wie sehr das Vorführen von Menschen zur Praxis gesellschaftlicher Widerspruchsregulation gehört.

Die dabei entfesselte Jagd auf Bilder, auf denen nichts weiter zu sehen ist als eine bürgerliche Normalität, die mit Monstrositäten konterkariert wird, könnte den vordergründigen Charakter dieser Freak-Show nicht besser dokumentieren. Das häufig fallende Stichwort des Voyeurismus kann die Diskrepanz zwischen der Neugier der Betrachter und dem nichtvorhandenen Erkenntnisgewinn der abgebildeten Gesichter kaum fassen. Die Austauschbarkeit der durch ihre Taten vermeintlich unverwechselbar gewordenen Personen ist keineswegs aufgehoben, sondern wird durch die demonstrative Inszenierung ihrer Durchschnittlichkeit unterstrichen.

Der Mangel an spezifischen, der Physiognomie der Täter zu entnehmenden Hinweisen auf das Abgründige ihrer Person sagt daher mehr über die Betrachter als deren Objekte aus. Die Suche nach verwertbaren Identifikationen des Bösen wurzelt in der Unterstellung eines Unterschieds, der biologistischer und rassistischer Ausflüchte bedarf, um nicht mit der eigenen Affinität zu lustvoller Gewalttätigkeit konfrontiert zu werden. Wo die erwünschte Stigmatisierung im Bild des sogenannten islamistischen Terroristen anhand spezifischer Symbole, des mißliebigen Migranten anhand der Fremdartigkeit seines Äußeren oder des angeblich asozialen Delinquenten anhand seines verwahrlosten Zustands mühelos vollzogen werden kann, mündet die Normalität dieser Täter in die besonders prickelnde Mutmaßung, daß das Böse "immer und überall" sei, wie es in einem ironisch gemeinten Schlager heißt.

Um so entschiedener muß das zerbrechliche Gewebe bürgerlicher Existenz durch Gewißheiten verstärkt werden, die sich nach außen als Korsett aus Sichtblenden, Attrappen und Vexierspiegeln darstellen, das jeden unvoreingenommenen Blick in die Irre erwünschter Deutungen und Perspektiven lenkt. Der an die Oberfläche drängende Verdacht, man könnte von ganz anderen Biedermännern so sehr übers Ohr gehauen werden, daß Amstetten und Winnenden zu flüchtigen Erinnerungen an das alltägliche Scheitern verkommen, wird mit der Aufblähung dieser und anderer Brüche bürgerlicher Moral zum Spektakel hintertrieben, so daß am Ende alles wieder im Lot ist.

Dem Bösen ein Gesicht geben ist keine bloße Übung in boulevardesker Animation, es erfüllt darüber hinaus die Aufgabe, die Spiegelung eigener Befindlichkeiten und die Deutungsmuster eigener Wahrnehmung für eine Konsensbildung fruchtbar zu machen, bei der am Ende alle Bescheid wissen, um sich nicht eingestehen zu müssen, wie sehr sie mit Blindheit geschlagen sind. Der soziale Tauschwert, jeder Sau nachzulaufen, die durchs Bundesdorf getrieben wird, um desto wirksamer vergessen zu können, wer die Peitsche schwingt, wird von Stern und Spiegel zu Lasten eines Publikums hochgetrieben, das Abfälle konsumiert, als ob es ein Festmahl wäre, um dem Hunger der Überlebenstüchtigen nicht in die Quere zu kommen und diesen im Zweifelsfall selbst als Nahrung zu dienen.

17. März 2009