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PROPAGANDA/1348: Taliban schließen zum Informationskrieg der NATO auf (SB)



Wenig Begeisterung bei der NATO-Führung löste die vom arabischen Nachrichtensender Al Jazeera (27.07.2009) verbreitete Information aus, daß die Taliban nun ein ausführliches Regelwerk für den Krieg gegen die Besatzungstruppen verfaßt haben. Angeblich soll jedem Talib das Buch mit dem Titel "Die Regeln für Kämpfer im Islamischen Emirat Afghanistan" ausgehändigt worden sein, was von einem umfassend strukturierten Vorgehen zeugt, das mit dem Bild der Rebellen als losem Haufen irregulärer Kämpfer kaum zusammenpaßt.

Der umfassende, laut Al Jazeera von Taliban-Führer Mullah Omar verfügte Verhaltenskodex enthält unter anderem die Aufforderung, Selbstmordattentate nur gegen besonders wichtige und anders nicht zu treffende Ziele durchzuführen. Diese Einschränkung soll dazu dienen, Opfer unter der Zivilbevölkerung unbedingt zu vermeiden. Vor allem jedoch läßt er erkennen, daß seine militärische Führung einige Anstrengungen unternimmt, die als Taliban auftretenden Kämpfer und Gruppen in eine effiziente und gut funktionierende Befehls- und Organisationsstruktur einzubinden. So hat Mullah Omar die Auflösung von Einheiten angeordnet, die nicht bereit sind, die von ihm und seinem Führungsstab erlassenen Anweisungen zu befolgen. Wer sich ihnen widersetzt, soll aufgespürt und entwaffnet werden, so die neue Regel, die eine Phase des Kriegs einleiten könnte, in der die Taliban planvoller und geschlossener gegen die NATO-Truppen vorgehen. Zudem scheint Mullah Omar mit dieser Politik auf die Diversionsstrategie der NATO zu reagieren, die sich der angeblich möglichen Unterscheidung zwischen moderaten und radikalen Taliban bedient.

Der neue Verhaltenskodex enthält zudem die Forderung nach korrektem Auftreten der Kämpfer in der Öffentlichkeit und einem angemessenen Umgang mit der Zivilbevölkerung, die erklärtermaßen für die Sache der Taliban gewonnen werden soll. Auch wird beim Umgang mit Gefangenen jeglicher Art verlangt, diese nicht zu mißhandeln. Da die Bevölkerung Afghanistans sich bewußt darüber ist, daß Gefangene der NATO-Truppen auch unter dieser US-Präsidentschaft nicht davor geschützt sind, von den afghanischen Regierungstruppen gefoltert zu werden, könnte die Botschaft, die Taliban seien weniger grausam als ihre Gegner, durchaus verfangen.

Bowe Bergdahl, der bislang einzige US-amerikanische Soldat, den die Taliban gefangennehmen konnten, scheint jedenfalls gut behandelt zu werden. Er hat vor laufender Kamera erklärt, ihm und seinen Kameraden sei von den vorgesetzten Offizieren erklärt worden, Opfer unter der Zivilbevölkerung ließen sich nicht vermeiden und spielten auch keine Rolle. Daraufhin hat der bekannte, häufig im US-Fernsehen auftretende Militäranalyst Ralph Peters, der während seiner Zeit bei den US-Streitkräften vor allem mit nachrichtendienstlichen Aufgaben betraut war, Bergdahl auf Fox News (19. 07.2009) als Deserteur bezeichnet und erklärt, die Taliban könnten den USA viele rechtliche Schwierigkeiten ersparen, wenn sie ihren Gefangenen töteten.

Peters, der zum Afghanistankrieg die Ansicht vertritt, die US-Streitkräfte hätten ihre Gegner einfach niedermachen und dann das Land wieder verlassen sollen, anstatt sich für Menschen verantwortlich zu fühlen, die den USA geschadet haben, ist ohnehin der Ansicht, daß man zukünftige Kriege nur mit Hilfe von Pressezensur, von Nachrichtensperren und der Zerstörung der Medien des Gegners gewinnen könne. Zwar wurde er für seine Stellungnahmen vielfach kritisiert, doch demonstriert sein Beispiel die Eskalationslogik eines Informationskriegs, der auch in Afghanistan immer erbitterter geführt wird.

Die NATO-Führung reagiert auf diese PR-Offensive mit der Behauptung, die verlangte Schonung der Zivilbevölkerung entspreche nicht der Realität der Kriegführung der Taliban, da 40 Prozent der Kriegsopfer, die auf deren Konto gehen, Zivilisten seien. Es handle sich um eine "Form von Propaganda", stellte NATO-Sprecher Eric Tremblay (antiwar.com, 29.07.2009) fest, ohne Angaben dazu zu machen, wie groß der Prozentsatz bei eigenen Kampfeinsätzen ums Leben gekommener Zivilisten ist. Offensichtlich paßt es der NATO-Führung nicht ins Konzept, daß die Taliban die Anfang Juni gemachte Ankündigung ihres Oberbefehlshabers General Stanley McChrystal, die Zahl der insbesondere bei Einsätzen der Luftwaffe zu Tode kommenden Zivilisten zu reduzieren, nun mit einer entsprechenden Verlautbarung gekontert haben.

Selbst wenn die NATO ernsthaft versuchte, die Zahl ihrer zivilen Opfer zu reduzieren, fordert schon der offensive Einsatz ihrer Distanzwaffen und die Operationen eigens auf das Töten von Taliban ausgerichteter Sonderkommandos einen hohen Blutzoll unter der afghanischen Bevölkerung. Besatzer in einem fremden Land, dessen Bevölkerung die gegen sie kämpfende Guerilla zumindest teilweise unterstützt, neigen stets dazu, diese Unterstützung dadurch zu brechen, daß sie das zivile Umfeld ihres Gegners angreifen. Wenn die NATO den Taliban vorwirft, die Bevölkerung als "menschliche Schutzschilde" zu mißbrauchen, so hat sich das allzu oft als propagandistisches Schutzschild in eigener Sache erwiesen. Auch der Einsatz von Kampfdrohnen zur gezielten Tötung feindlicher Kämpfer zieht fast immer Zivilisten in Mitleidenschaft, die sich in deren Nähe aufhalten, wie die vielen Opfer derartiger Angriffe im pakistanischen Grenzgebiet belegen.

Indem die NATO vorgibt, mit militärischen Mitteln das Abhalten der Präsidentschaftswahl sichern zu wollen, stellt sie einen angeblich demokratischen Akt unter das Diktat ihrer Kriegführung. Sie kann damit ebensowenig wie die Taliban in Anspruch nehmen, die Unterstützung der Mehrheit der Afghanen hinter sich zu haben. Deren militärisches Erstarken und die Bemühungen der Taliban-Führung, im Informationskrieg mit der westlichen Militärallianz gleichzuziehen, haben eine Auseinandersetzung auf der Propagandaebene zur Folge, die die NATO trotz ihrer äquivalent zur militärischen Überlegenheit weit besseren medialen Bemittelung zu einer Rechtfertigungspolitik nötigt, der sie bislang aufgrund der Dominanz ihrer Informationspolitik nicht ausgesetzt war.

30. Juli 2009