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PROPAGANDA/1386: Verschwörungstheorien blühen nicht nur im Abseits (SB)



Die Tragödie von Smolensk hat das Leben einen Großteils der politischen Führung Polens ausgelöscht. Beim vierten Anflug im Nebel, der gegen die Anweisung der russischen Flugüberwachung erfolgte, stürzte das Flugzeug beim Landeanflug auf den Militärflughafen von Smolensk ab. Nach bisherigen Erkenntnissen befand sich die Maschine in einwandfreiem Zustand, so daß von einem Unglück ausgegangen werden muß. Dennoch kursieren bereits Verschwörungstheorien über die Ursache des Absturzes, und das nicht nur unter den üblichen Verdächtigen auf den dafür zuständigen Websites. So schreibt eine renommierte Sonntagszeitung:

"Denn vor Kaczynskis Reise nach Katyn kam es zu unwürdigen diplomatischen Auseinandersetzungen zwischen Moskau und Warschau um seinen Auftritt am Massengrab. Die Russen hätten auf den harten Kreml-Kritiker in Katyn gerne verzichtet. Von der lupenreinen Aufklärung des Absturzes im Smolensker Nebel hängt nun nicht nur die Zukunft der polnisch-russischen Beziehungen ab. Es ist eine europäische Sicherheitsfrage ersten Ranges, dass nach dem Absturz in Smolensk auch nicht der Hauch eines bösen Verdachts hängen bleibt."
(Welt am Sonntag, 11.04.2010)

Wie kommt der Autor dieses Kommentars auf den "bösen Verdacht", den es nun unbedingt auszuräumen gelte? Auch wenn er den Anschein erweckt, er werde nicht von ihm gehegt, so spricht er doch aus, was andere nicht einmal denken, schon weil eine derartige Bezichtigung völlig kontraproduktiv für den vom russischen Premierminister Wladimir Putin eingeleiteten Versöhnungsprozeß wäre. Bei dem Springer-Blatt nimmt man sich jedoch die Freiheit, über die Möglichkeit einer Manipulation durch russische Akteure oder gar die russische Regierung laut nachzudenken. Den Teufel an die Wand zu malen und von einer "europäischen Sicherheitsfrage ersten Ranges" zu sprechen legt nahe, daß der Urheber dieses Verdachts profundes Interesse an dieser virulenten Bezichtigung hat.

Die Blätter des Springer-Verlags verwahren sich üblicherweise dagegen, wenn entsprechende Verdächtigungen in Richtung der US-Regierung erhoben werden. Obwohl es zahlreiche offene Fragen zu den Anschlägen des 11. September 2001 gibt, werden entsprechende Mutmaßungen stets entschieden zurückgewiesen. In einem Fall, in dem es keinerlei konkrete Verdachtsmomente gibt, redet man jedoch der Plausibilität bloßer Nutzenerwägungen das Wort. Konsequenterweise müßte man auch andere Interessen in Betracht ziehen. So könnte das Fischen im Trüben nach interessenbedingten Gründen für den Tod der polnischen Führung auch die Theorie zum Ergebnis haben, daß sich Akteure in der EU damit eines nationalpopulistischen Staatschefs entledigten, der nicht nur einmal antieuropäische Ressentiments geschürt hat. Es könnte auch zu der Annahme führen, daß die US-Regierung eine Annäherung zwischen Polen und Rußland aus geostragischen Gründen zu torpedieren trachtete. Schließlich könnten gegen Rußland gerichtete Verschwörungstheorien bewirken, daß der nach dem Tod des Präsidenten Lech Kaczynski kommissarisch mit den Staatsgeschäften betraute Sejm-Marschall Bronislaw Komorowski Nachteile beim Kampf um die Nachfolge um das höchste Staatsamt hätte, da er als moskaufreundlich gilt.

Konsequenterweise müßten also nicht nur der Kreml, sondern alle Regierungen, denen diese Tragödie realpolitische Vorteile beschert, sich gegen die Mutmaßung einer fremdinduzierten Unfallursache verteidigen. Schließlich könnte auch die Welt am Sonntag etwas dafür tun, nicht bezichtigt zu werden, interessenbedingt mit dem Finger auf Rußland zu zeigen. Ist die Saat des Mißtrauens erst einmal gelegt, dann ist ihr Wildwuchs nicht mehr zu kontrollieren.

11. April 2010