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PROPAGANDA/1393: "Diskurs" zum Afghanistankrieg fällt aus ... Horst Köhlers unterdrückte Worte (SB)



Am Morgen des 22. Mai präsentierte Deutschlandradio Kultur ein bemerkenswertes Interview mit Bundespräsident Horst Köhler. In ihm klärte der oberste Repräsentant der Bundesrepublik nach dem Besuch eines Feldlagers der Bundeswehr in Nordafghanistan über Gründe für die Beteiligung der Bundeswehr am Afghanistankrieg auf, die in öffentlichen Stellungnahmen hochrangiger Politiker üblicherweise ausgeklammert bleiben. Köhler forderte in seinem Plädoyer einen an der "Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit" der Bundesrepublik orientierten Einsatz der Streitkräfte, mit dem "freie Handelswege" durchgesetzt und "regionale Instabilitäten" verhindert werden sollten, da sich militärische Zurückhaltung "mit Sicherheit" negativ auf "Handel, Arbeitsplätze und Einkommen" auswirkte. Den Preis für die Wahrung dieser Interessen bezifferte er mit weiteren Todesfällen bei Soldaten wie bei zivilen Aufbauhelfern. Um "dieser Realität ins Auge blicken" zu können, forderte der Bundespräsident zu einem "politischen Diskurs in der Gesellschaft" auf, als dessen Ziel er die größere Anerkennung der "guten Arbeit" definierte, die die deutschen Soldaten in Afghanistan verrichteten.

Dieses wohl weitreichendste Eintreten eines Bundespräsidenten für eine interessenpolitisch bedingte Kriegführung der Bundeswehr außerhalb des Gebiets der Bundesrepublik dürften nicht allzuviele Bundesbürger zu der sonnabendlich frühen Stunde vernommen haben. Was um 7.51 über den Sender ging, war am Vormittag des gleichen Tags noch als redaktionelle Zusammenfassung des Interviews auf der Webseite des Deutschlandradios Kultur zu lesen. Ruft man die gleiche Adresse [1] drei Tage später auf, dann steht an diesem Ort ein Transkript des Interviews, in dem die im Schattenblick aus dem Audiomitschnitt zitierten Textpassagen [2] fehlen. Lediglich bei Abhören des an dieser Stelle angebotenen Audiomitschnitts erfährt man, nach welcher Maßgabe die Bundesbürger über Sinn und Zweck des Afghanistankriegs diskutieren sollen. In dem präsentierten Transkript, der sich zur ersten Hälfte mit dem dort angebotenen Audiomitschnitt deckt, während die zweite Hälfte nicht in ihm enthalten ist, wurden die wichtigsten Aussagen Köhlers schlicht weggelassen. An der Stelle, wo der verschriftlichte Text von der Audioversion abweicht, befindet sich kein Hinweis auf diese Kürzung.

Da man davon ausgehen kann, daß sich das Gros des Publikums des Deutschlandradios auf die Identität von Schrift und Wort verläßt, so daß sich nur eine Minderheit die Mühe machen wird, das Interview im O-Ton anzuhören, hat man es hier mit einer groben Manipulation zu tun. Zweifellos machte man sich nicht die Mühe, die Textversion des Interviews so zu entstellen, wenn es dafür nicht schlechte politische Gründe gäbe. Weil der Bundespräsident die Bürger zur öffentlichen Debatte aufgerufen hat, diese aber keineswegs den von ihm gewünschten Verlauf nehmen muß, sondern aufgrund der von ihm vorgebrachten Kriegsgründe zu einer konträren Meinungsbildung führen könnte, ist zu mutmaßen, daß man beim Deutschlandradio Kultur nicht an einer breiten öffentlichen Rezeption seiner Stellungnahme interessiert ist.

Während sich die Mehrheitsmedien heute daran abarbeiten, daß der Bundespräsident an der Siegeszuversicht der Soldaten gezweifelt haben soll, bleibt seine Stellungnahme zu den Kriegsgründen so gut wie unsichtbar. Einige wenige Blogs berichten über die weggekürzten Interviewteile, darunter besonders ausführlich die Seite "Grüne Friedensinitiative" mit einer Analyse der unterschiedlichen Fassungen [3]. Darauf zu stoßen dürfte einem so geringen Teil der interessierten Bevölkerung vorbehalten bleiben, daß dies an der Unterbindung des von Köhler verlangten Diskurses nichts ändern wird.

Im März wurden in einem auf der Webseite wikileaks.org zugänglich gemachten Memo der CIA unter dem Titel "Afghanistan: Sustaining West European Support for the NATO-led Mission - Why Counting on Apathy Might Not Be Enough" Vorschläge unterbreitet, wie man unter der deutschen Bevölkerung die Zustimmung für den Afghanistankrieg verbessern könnte: "Botschaften, welche die Auswirkungen einer NATO-Niederlage auf spezifische deutsche Interessen dramatisieren, könnten der weitverbreiteten Ansicht, daß Afghanistan nicht das Problem Deutschlands ist, entgegenwirken. Zum Beispiel Botschaften, die deutlich machen, wie eine Niederlage in Afghanistan Deutschlands Verletzlichkeit bezüglich Terrorismus, Opiumhandel und Flüchtlingen erhöhte, könnten dazu beitragen, den Skeptikern die Bedeutung des Krieges näherzubringen" [4]. Offensichtlich hat der Bundespräsident hier zu viel des Guten getan, indem er sich nicht mit den üblichen Vorwänden aufhielt, sondern gleich zum wesentlichen imperialistischer Kriegführung vorgestoßen ist.

Fußnoten:

[1] http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/interview/1188780/

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/volk1430.html

[3] http://blog.gruene-friedensinitiative.de/?p=348

[4] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/redakt/mden-434.html

25. Mai 2010