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PROPAGANDA/1439: Stigma "Verschwörungstheorie" - Gesinnungsverdacht statt rationaler Kritik (SB)



Bei aller berechtigten Kritik an den sogenannten Verschwörungstheorien zum 11. September 2001 nimmt der Pauschalvorwurf, dabei handle es sich sui generis um eine Kategorie antiamerikanischer und antisemitischer Ideologieproduktion, seinerseits Züge desjenigen paranoiden Wahns an, der den Adressaten angelastet wird. Daraus, daß einige rechtsbürgerliche oder als solche identifizierte Protagonisten das Wasser des Verdachts, die offizielle Version zur Vorbereitung und Ausführung der 9/11-Anschläge entspreche nicht dem tatsächlichen Verlauf der Ereignisse, auf ihre Mühlen leiten, allen 9/11-Skeptikern eine Querfrontideologie anzulasten, simuliert die als verschwörungstheorisch kritisierte Praxis, aus der bloßen Assoziation bestimmter Personengruppen schwerwiegende Bezichtigungen zu erwirtschaften.

Festzuhalten bleibt der große Erfolg massenmedialer Konsensproduktion, auch gut begründete Zweifel am offiziell behaupteten Tathergang unter dem Etikett der Verschwörungstheorie außerhalb jeglichen seriösen Diskurses zu stellen. Darüber, welcher Wahrheit sich linke Aktivistinnen und Aktivisten verpflichtet fühlen, die unter dem Vorwurf rechter Ideologieproduktion ins gleiche Horn stoßen, kann nur gemutmaßt werden. Angelastet werden kann ihnen auf jeden Fall, daß sie eine Bezichtigung stark machen, die auf der Linie imperialistischer Kriegführung und antimuslimischer Feindbildproduktion liegt. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Mutmaßungen und Plausibilitäten der 9/11-Skeptiker scheint jedenfalls für die meisten linken Organisationen und Publikationen tabu zu sein. Um sich nicht des Vorwurfs nämlicher Assoziation auszusetzen, läßt man ein nicht unwichtiges Feld herrschaftskritischer Auseinandersetzung veröden.

Wer das Stigma der "Verschwörungstheorie" eins zu eins aus der bürgerlichen Ideologieproduktion übernimmt, entledigt sich zugleich jeglicher Möglichkeit, zwischen zweckdienlichen Vorwandslagen und konkreten Zielen bei der Durchsetzung herrschender Interessen zu differenzieren. Dabei kann an zahlreichen historischen Beispielen nachgewiesen werden, daß trügen und täuschen zum kleinen Einmaleins erfolgreicher Strategien des Teilens und Herrschens gehört. Das Erwirtschaften falscher Kriegsgründe wie zu Beginn des Zweiten Weltkriegs oder im Golf von Tonkin, das Einschwören der Bevölkerungsmehrheit auf Regierungslinie durch die rassistische Anfeindung ethnischer und religiöser Minderheiten, die in Italien angewendete Strategie der Spannung und mit geheimdienstlichen Mitteln herbeigeführte Provokationsakte sind Praktiken aus dem Lehrbuch machiavellistischer Herrschaftssicherung, von denen man allerdings nur erfährt, wenn sie jemals aufgedeckt werden.

Inwiefern diese auf konkreten geheimen Absprachen beruhen oder als opportunistische Manöver einvernehmlich und stillschweigend vollzogen werden, ist im Einzelfall zu untersuchen. Zu behaupten, es gäbe keine Verschwörungen, also das gezielte Ergreifen von Maßnahmen zum Initiieren von Wirkungen, die kausal nicht zurückzuverfolgen sind und so in irreführenden Motivlagen verortet werden können, bedeutet allerdings, sich sehenden Auges vom schönen Schein herrschender Legitimationsproduktion blenden zu lassen. Das Extrem, antisemitische Machwerke wie die "Protokolle der Weisen von Zion" für bare Münze zu nehmen, die Krise des Kapitals auf die Gier der Banker zurückzuführen, graue Eminenzen in den Schaltzentralen Washingtons der Weltherrschaft zu bezichtigen oder die angebliche Inszenierung der Anschläge des 11. September 2001 durch die US-Regierung monokausal für alle seitdem erfolgten weltpolitischen Entwicklungen verantwortlich zu machen, kehrt durch die Unterstellung, die Welt sei eben so beschaffen, wie in Medien und Politik dargestellt, in die Äquivalenz bequemer Lösungen und schneller Antworten zurück.

Dem begründeten Zweifel im Angesicht sozialer Widerspruchslagen zur Gültigkeit zu verhelfen und den propagierten Anspruch demokratisch legitimierter Politik am konträren Ergebnis zu messen erfordert demgegenüber mehr Mühe, ist aber auch weit interessanter als sich auf die Suche nach Antworten zu begeben, die durch die Fragestellung bereits vorgegeben sind. Für die zum zehnten Jahrestag der Anschläge des 11. September 2001 inszenierte Apologie des offiziell präsentierten Tatverlaufs scheint die Stigmatisierung sogenannter Verschwörungstheoretiker als Gesinnungstäter unentbehrlich zu sein. Basierten deren Ansichten tatsächlich nur auf haltlosen Hirngespinsten, dann wirkt der Aufwand, sie vorzugsweise mit polemischen Mitteln zurückzuweisen, doch etwas übertrieben. Es drängt sich der Eindruck auf, daß die Rechtfertigung der seitdem geführten Aggressionskriege, erfolgten Menschenrechtsverletzungen und forcierten Entdemokratisierung auf tönernen Füßen steht.

Gleichzeitig frönen die sogenannten Truther mit der Ansicht, es bedürfe nur der Aufdeckung des vermeintlichen 9/11-Komplotts, um der Durchsetzung repressiver Sicherheitsstaatlichkeit und aggressiver Kriegführung Einhalt zu gebieten, einem Glauben an die Gültigkeit verfassungsrechtlicher Garantien und demokratischer Institutionen, der fernab jedes herrschaftskritischen Umgangs mit Staat und Kapital liegt.

Die, wie Marcus Klöckner in seiner Untersuchung zur Berichterstattung über die
Anschläge des 11. September 2001 belegt [1], so gut wie kaum vorhandene
Bereitschaft, die dazu gestellten Fragen und entwickelten Theorien einer
vorbehaltlosen rationalen Analyse zu unterziehen, arbeitet ihrerseits einer ganz
anderen Sorte von Verschwörungstheorien zu. Die in den USA wie Europa immer mehr
Zulauf erhaltende rechtspopulistische Bewegung, die in der angeblichen
Überfremdung durch den Islam das Wurzel allen Übels sieht, begründet die
Theorie, fanatische Jihadisten hätten es auf die Zerstörung der
christlich-jüdischen Kultur abgesehen, maßgeblich mit den Anschlägen des 11.
September 2001. Die Möglichkeit, daß die Motivlage der Attentäter anders
gelagert sein könnte, daß sie nicht, wie behauptet, dem Neid auf die Freiheiten des
liberalen Gesellschaftsmodells geschuldet wäre, sondern sich auf die westliche
Kriegführung in mehrheitlich islamischen Staaten bezöge, daß sie gar der Logik
eines Provokationsaktes folgte, unterminiert die kulturalistische Suggestion
eines Krieges zwischen religiös bestimmten - und nicht etwa der
Verwertungskonkurrenz des globalen Kapitalismus ausgesetzten - Zivilisationen.
Darüberhinaus die Frage aufzuwerfen, welchen Stellenwert der Aufstieg
sozialrassistischer Volkstribune vom Schlage Thilo Sarrazins und Geert Wilders
im Klassenkampf westlicher Gesellschaften besitzt, wieso ihre antikommunistische
Doktrin in ihrerseits antikommunistischen Muslimen keinen willkommenen
Verbündeten sieht, würde die Debatte vollends über den Rand ihrer
herrschaftsförmigen Regulation hinaustreiben.

Fußnoten:
[1] http://www.heise.de/tp/artikel/35/35430/1.html

8. September 2011


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