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PROPAGANDA/1455: Assange diskreditieren - Verdummungsjournalismus pur (SB)




Bei ARD und ZDF sitzen Sie in der ersten Reihe - der Verdummung, möchte man dem Motto der Öffentlich-Rechtlichen hinzufügen, führt man sich den jüngsten Kommentar Stephan Lochners, SWR-Hörfunkkorrespondent London, zum diplomatischem Eklat im Fall Assange zu Gemüte. Wenngleich die Befürchtung nicht ganz von der Hand zu weisen ist, der Autor habe mit der an boulevardeske Ausfälle auf niedrigstem Niveau erinnernden Häme bereits die Grenzen seiner journalistischen Kompetenz erreicht, drängt sich doch ein anderer Verdacht auf: Hier wird dem Publikum mit der programmatischen Unterstellung schon in der Überschrift, es handle sich um "Verschwörungsquatsch im Kasperletheater" [1], in einem Akt gezielter Desinformation vorgegaukelt, man werde Zeuge eines eskalierenden Gezänks hochgeschaukelter Dummheiten und Überreaktionen, weshalb man allen Beteiligten nur zurufen könne: "Kommt doch bitte zur Vernunft!" Die Botschaft, daß die Welt in Ordnung sei, und ein Verschwörungstheoretiker, wer anderes behauptet, rät den Konsumenten solcherart interpretierten Weltgeschehens, sich beruhigt zurückzulehnen: Wir wissen es besser, welche Banalitäten in diesem Konzert streitsüchtiger Wichtigtuer zum Ausbruch drängen, und können getrost dabei zuschauen, wie sich absurderweise Kapriole an Kapriole reiht.

WikiLeaks-Gründer Julian Assange, so läßt uns Lochner wissen, sei "ganz offensichtlich getrieben von der Wahnvorstellung, die schwedische Justiz sei eine Art verlängerter Arm der amerikanischen Gerichtsbarkeit und wolle ihn nur nach Stockholm holen, um ihn dann gleich an die USA weiterzureichen, wo das Todesurteil gegen ihn schon gefällt sei." Assange habe diesen "Verschwörungsquatsch" so oft erzählt, daß er ihn inzwischen selber glaube: "Anders ist sein merkwürdiges Manöver nicht zu erklären." Den abgeschmackten Winkelzug, die wohlbegründeten Befürchtungen Assanges als Verfolgungswahn zu diskreditieren, in den er sich selbst hineingeredet habe, komplettiert der Kommentator mit einem Kübel blanken Hohns. Julian Assange habe sich auf der Suche nach Freiheit zu "einem Leben unter Haftbedingungen verdammt". "Fragt sich, wie lange der WikiLeaks-Gründer das aushält, und wann ihm dämmert, dass er in nahezu jedem Gefängnis der Welt mehr Auslauf hätte."

Hat Stephan Lochner die Haftbedingungen Bradley Mannings vergessen? Der ehemalige US-Militärangehörige hatte WikiLeaks vertrauliche Informationen zugespielt und wird seit rund 800 Tagen unter verschärften Sicherheitsbedingungen in Isolationshaft gequält, ohne daß es zu einem Verfahren gekommen wäre. Menschenrechtsorganisationen haben das Vorgehen der USA scharf verurteilt. Christine Assange, die Mutter des australischen Internetaktivisten, hatte jüngst in Ecuador Gespräche geführt, um das Leben ihres Sohnes zu schützen. Unter Verweis auf das Schicksal des gefolterten Bradley Manning verlieh sie ihrer Sorge vor einer Auslieferung ihres Sohnes in die USA mit den Worten Ausdruck: "Wenn sie so etwas mit einem US-amerikanischen Bürger machen, werden sie noch weniger Skrupel haben es mit einem Ausländer zu tun." [2]

Ist dem SWR-Korrespondenten der Fall Murat Kurnaz entgangen? Der CIA-Sonderausschuß des Europäischen Parlaments kam seinerzeit zu dem Schluß, daß die deutsche Bundesregierung 2002 ein Angebot der USA, Kurnaz freizulassen, ausgeschlagen habe. Dies sei geschehen, obwohl die Nachrichtendienste beider Staaten von seiner Unschuld überzeugt waren. Die politische Verantwortung dafür soll der damalige Chef des Bundeskanzleramtes und Beauftragter für die Nachrichtendienste Frank-Walter Steinmeier tragen, was dieser natürlich bestritt. Der damalige Innensenator Bremens, Thomas Röwekamp, kündigte 2004 an, daß Kurnaz nach seiner Freilassung nicht wieder nach Deutschland einreisen dürfe, da seine unbefristete Aufenthaltserlaubnis wegen eines mehr als sechsmonatigen Auslandsaufenthalts erloschen sei. Kurnaz (der in der fraglichen Zeit in Guantánamo festgehalten wurde) habe versäumt, die in solchen Fällen vorgeschriebene Verlängerung der Wiedereinreisefrist zu beantragen. Am 1. März 2007 kam es schließlich im BND-Untersuchungsausschuss zum Eklat, da wichtige Akten zum Fall des verschleppten Murat Kurnaz verschwunden waren.

Für wie naiv hält Lochner seine Zuhörer, wenn er nach Geheimgefängnissen, Verschleppungen, Folterflügen, unbegrenzter Willkürhaft und zahllosen weiteren Grausamkeiten der US-Administration und ihrer Verbündeten die Befürchtungen Julian Assanges zu einem Hirngespinst erklärt, ihm drohe Auslieferung an die USA und dort Drangsalierung, Aburteilung und lebenslange Haft, wenn nicht gar ein Todesurteil wegen Geheimnisverrats? Der Gründer von WikiLeaks wurde weder in Schweden, Großbritannien noch sonst einem Land wegen eines Verbrechens angeklagt. Der 2002 eingeführte Europäische Haftbefehl machte es dennoch möglich, ihn in London festzusetzen, wo er unter Hausarrest stand, eine elektronische Fußfessel tragen mußte, ab zehn Uhr abends Ausgangssperre hatte und sich täglich bei der Polizei melden mußte, bis schließlich sämtliche Rechtsmittel ausgeschöpft waren und er Zuflucht in der Botschaft Ecuadors suchte.

Warum sich Assange dorthin begeben hat, will dem ARD-Kommentator angeblich nicht in den Kopf. "Nicht nur, dass er sich als vermeintlicher Kämpfer gegen Zensur lächerlich macht, indem er ausgerechnet bei Ecuador Zuflucht sucht, einem Land, in dem so etwas wie Pressefreiheit wenig zählt." Es bleibe auch rätselhaft, "was die ecuadorianische Regierung reitet". Sehe Präsident Rafael Correa die Chance, die US-Regierung zu piesacken, sei er sich offenbar für nichts zu schade und mache "aus einem Julian Assange einen politisch Verfolgten". Daß WikiLeaks im Jahr 2010 durch die Veröffentlichung vertraulicher oder geheimer Depeschen der US-Botschaften für einen Aufschrei der Empörung in zahlreichen Ländern Lateinamerikas gesorgt hatte und Ecuador US-Botschafterin Heather Hodges zur unerwünschten Person erklärte, erwähnt Lochner nicht. Schließlich würde das seine Bezichtigung zur Makulatur machen, Correa und Assange befleißigten sich einer absurden Kumpanei, die weder Hand noch Fuß habe.

Unerwähnt bleibt in dem Kommentar auch, daß es sich die ecuadorianische Regierung mit ihrer Entscheidung keineswegs leicht gemacht hatte. Sie schlug Schweden vor, Assange in der Botschaft durch schwedische Beamte zu vernehmen, was die Skandinavier jedoch ablehnten. Washington wiederum verweigerte Informationen darüber, ob Untersuchungen gegen Assange durchgeführt werden und ein Auslieferungsbegehren seitens der USA möglich sei. Erst nachdem alle Versuche fehlgeschlagen waren, Sicherheitszusagen zu erwirken, gab Ecuador dem Asylantrag statt. Auf einer Pressekonferenz in Quito erklärte Außenminister Ricardo Patiño, sein Land werde Assange, der für Meinungsfreiheit und Freiheit des Internets eintrete, entsprechend der internationalen Erklärung der Menschenrechte und der UN-Charta Schutz gewähren. Der Australier habe bei einer möglichen Auslieferung in die USA kein faires Verfahren zu erwarten. Drohungen der britischen Behörden, gewaltsam in die Botschaft Ecuadors einzudringen, um Assange festnehmen und an Schweden ausliefern zu können, wies Patiño entschieden zurück: "Wir sind keine britische Kolonie. Die Kolonialzeit ist lange vorbei!" [3]

Jorge Jurado, Botschafter Ecuadors in Deutschland, verteidigte die Entscheidung, Assange diplomatisches Asyl zu gewähren, als "legitimes Recht der Regierung der Republik Ecuador als demokratisch gewählter Vertretung eines souveränen, international anerkannten Staates. (...) Statt eine Verletzung der völkerrechtlichen Normen des Umgangs souveräner und zivilisierter Staaten untereinander anzudrohen oder auch nur in Erwägung zu ziehen, sollte London sich an die internationalen Instanzen wenden, die zur Schlichtung von Differenzen zwischen Nationen eingerichtet wurden. Alles andere würde einen äußerst gefährlichen Präzedenzfall schaffen, denn es würde die Tür zur Verletzung völkerrechtlich garantierter Schutzbereiche öffnen, wie ihn jede diplomatische Vertretung in jedem Land der Welt darstellt." [4]

Der diplomatische Streit zieht weite Kreise und wird auch die Außenminister der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) beschäftigen. Zudem hat Ecuador die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) eingeschaltet, und am Wochenende kommt das lateinamerikanische Staatenbündnis ALBA zu Beratungen darüber zusammen. Daß die Kampfansage, Ecuador in einem Brief mit der Aufhebung des Status seiner Botschaft in London zu drohen, keine gute Idee gewesen sei und die Beziehungen Großbritanniens zu zahlreichen Regierungen Südamerikas belaste, findet auch der Kommentator. Weit davon entfernt, der Dimension dieses Konflikts gerecht zu werden und die Beweggründe der britischen Regierung angemessen zu analysieren, sucht er jedoch die Urheberschaft bei irgendeinem "neunmalklugen" Diplomaten, der sich die Frage gefallen lassen müsse, ob er "noch ganz dicht" sei. "Nein, das kann Großbritannien nicht ernst gemeint haben. Das war eine vollkommen überflüssige Provokation", staucht Lochner die brisante Affäre auf das Format einer Provinzposse zusammen, die von einigen Spinnern und Hitzköpfen losgetreten worden sei.

Wie Julian Assange Ende März in einem Interview gesagt hatte, seien die Angriffe auf ihn selbst und WikiLeaks sehr aufschlußreich:

Die US-Regierung versucht, eine neue Auslegung von Journalismus durchzusetzen. Sie will alle Informationen von Informanten zur Verschwörung erklären. Mit anderen Worten, sie will, dass Journalisten nur noch passive Sprachrohre für andere Kräfte sind. Aber das ist nicht der traditionelle Umgang von Journalisten mit der nationalen Sicherheit. Wenn die US-Regierung damit Erfolg hat, wird es im Westen das Ende der Berichterstattung über nationale Sicherheit sein, wie wir sie kennen. [5]

Schwört der SWR-Hörfunkkorrespondent seine Zuhörer unter vollständiger Ausblendung der massiven Repression gegen WikiLeaks auf eine Vernunft ein, die eine solche Gefahrenanalyse für den eigenen Berufsstand zu krankhaftem Wahn erklärt, steht zu befürchten, daß die von Assange angeprangerte neue Auslegung von Journalismus bei den Öffentlich-Rechtlichen offene Türen einrennt.

Fußnoten:

[1] http://www.tagesschau.de/kommentar/assange330.html

[2] http://www.welt.de/politik/ausland/article108657038/Europa-und-USA-verlieren-Einfluss-in-Lateinamerika.html

[3] http://www.jungewelt.de/2012/08-17/054.php

[4] http://www.jungewelt.de/2012/08-17/022.php

[5] http://wsws.org/de/2012/mar2012/assa-m20.shtml

18. August 2012