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PROPAGANDA/1464: Merkels Neujahrsgruß - Nur Mut, auch wenn man sonst nichts hat! (SB)




Wer anders als Bundeskanzlerin Angela Merkel könnte die traditionelle Neujahrsansprache mit einem Verweis auf "Dinner for One", den 1. Spieltag der Fußball-Bundesliga und das Farbfernsehverfahren PAL eröffnen, dann John F. Kennedys Berliner Rede und den Élysée-Vertrag streifen, um schließlich den "lieben Mitbürgerinnen und Mitbürgern" in schlichten Worten weitere soziale Grausamkeiten im neuen Jahr unterzujubeln! Hatte man des Bundespräsidenten Weihnachtsansprache akribisch daraufhin abgeklopft, ob es womöglich die bislang vermißte "große Rede" sei, als wünsche man nichts sehnlicher, als vom Staatsoberhaupt mit einer ganz besonders gedrechselten Wortklauberei lektioniert zu werden, erwartet niemand dergleichen von der Kanzlerin. Die kommt wie üblich beinahe im Plauderton daher und zieht ihre Landsleute so beiläufig über den Tisch, als halte sie ein Schwätzchen im Hausflur.

Mut sollen die Bundesbürger haben, lautet die Losung der Kanzlerin, um initiativ zu werden, Mißstände zu beheben, sich um andere zu kümmern - kurz, all das zu bewältigen, was der entsorgte Sozialstaat nicht länger an Grundversorgung bereitstellt: "Es sind die Familien, die sich Tag für Tag liebevoll um ihre Kinder und um ihre Angehörigen kümmern. Es sind Gewerkschafter und Unternehmer, die gemeinsam für die Sicherheit der Arbeitsplätze arbeiten." [1] Bewundernswert, wie Merkel die gesellschaftliche Widerspruchslage in einem einzigen Satz für nichtexistent und den ärmelhochkrempelnden Klassenkompromiß noch immer zur relevantesten deutschen Tugend erklärt.

Kleine Geschichten aus ihren Begegnungen mit dem einfachen Volk einflechtend menschelt sich die Kanzlerin zu ihrer zentralen Botschaft voran: "Wir brauchen für unseren Wohlstand und unseren Zusammenhalt die richtige Balance. Wir brauchen die Bereitschaft zur Leistung und soziale Sicherheit für alle." Was "unseren Wohlstand" betrifft, braucht sich die Kanzlerin keine Sorgen zu machen, fängt doch das neue Jahr mit steigenden Bundestagsdiäten und Regierungsgehältern ab Januar an. Das Gehalt der Kanzlerin steigt um knapp 200 auf 16.816 Euro, wozu noch die Diätenerhöhung kommt, so daß Merkel ab sofort insgesamt knapp 350 Euro im Monat mehr erhält. Zu wenig, um mit Peer Steinbrück zu sprechen, wenn man es mal mit Spitzengehältern in der Wirtschaft vergleicht. Genug, wie Altkanzler Gerhard Schröder der Bild am Sonntag anvertraut: "Nach meinem Eindruck werden die Politiker in Deutschland angemessen bezahlt. Ich habe jedenfalls davon immer leben können." [2]

Damit "die richtige Balance" gewahrt wird und nicht nur die Schröders und Merkels so eben über die Runden kommen, wird zum Jahreswechsel auch bei Hartz IV ordentlich nachgelegt. So steigt der Arbeitslosengeld-II-Regelsatz für Erwachsene um stolze acht Euro, während er für ein 13jähriges Kind um vier auf 255 Euro angehoben wird, so daß diese Altersgruppe die erste Anpassung seit 2009 verjubeln kann. Da neben Erwerbslosen auch Aufstocker, Rentner und erwerbsgeminderte Menschen auf die Grundsicherung angewiesen sind, können in Deutschland rund 7,8 Millionen Hartz-IV-Betroffene Merkels Losung folgend wieder Mut schöpfen.

Dumm nur, daß sie trotz der generösen Regelsatzerhöhung weniger Geld für ihren Lebensunterhalt zur Verfügung haben als noch vor acht Jahren. Seit 2005, dem Jahr der Einführung von Hartz IV, sind die Verbraucherpreise um rund 14,5 Prozent gestiegen, der Eckregelsatz für einen Single-Haushalt aber nur um 10,7 Prozent. Besonders stark zugelegt haben die Preise für die Grundversorgung: Für Obst, Gemüse, Fleisch und Käse um satte 20,7 Prozent, die Strompreise sind seit 2005 sogar um 45,8 Prozent gestiegen. Und da die Gefahr, für längere Phasen des Lebens auf Hartz IV angewiesen zu sein, erheblich zugenommen hat, werden Armut und Ausgrenzung weiter verschärft. [3]

Apropos Strom: "Deshalb bauen wir Deutschland zu einem der modernsten Energiestandorte der Welt um", sagt die Kanzlerin. Was das für die Bürger bedeutet, erläutert EU-Energiekommissar Günther Oettinger: "Wir werden auch in 40 Jahren noch Atomstrom im deutschen Netz haben." Die deutschen Verbraucher müßten sich auf steigende Strompreise einstellen: "Innerhalb der nächsten fünf Jahre wird der Strompreis deutlich schneller als die Inflation steigen." Das sei ein neues Armutsrisiko: "Es wird demnächst auch in Deutschland viele Haushalte geben, die ihren Strom nicht mehr bezahlen können." [4]

Man habe im abgelaufenen Jahr die niedrigste Arbeitslosigkeit und die höchste Beschäftigung seit der Wiedervereinigung erlebt, was für viele hunderttausend Familien eine sichere Zukunft und erfahrene Anerkennung bedeute. "Und das bedeutet für unsere jungen Menschen die Sicherheit, eine Ausbildung, einen Arbeitsplatz und damit einen guten Start ins Leben zu haben", so die Kanzlerin. Wer wollte angesichts solcher Erfolgsbilanzen von Hungerlöhnen, Mehrfachjobs, Arbeitshetze und jenen 46 Prozent mäkeln, die ausgebrannt und psychisch krank die Liste der Frühverrentungen anführen.

Daß im neuen Jahr alles noch schwieriger wird, kann selbst die Kanzlerin nicht ganz verhehlen. Das wirtschaftliche Umfeld sei problematisch, die Krise noch längst nicht überwunden. Es müsse mehr getan werden, die Finanzmärkte zu überwachen, da die Welt die Lektion der verheerenden Finanzkrise von 2008 noch nicht ausreichend gelernt habe. Nie wieder dürfe sich eine solche Verantwortungslosigkeit wie damals durchsetzen: "In der sozialen Marktwirtschaft ist der Staat der Hüter der Ordnung, darauf müssen die Menschen vertrauen können."

Wenn Merkel die Verwertungskrise des Kapitalismus verschleiert, indem sie skrupellose Akteure des Finanzsektors anprangert und zur Ursache der aus dem Ruder gelaufenen Weltwirtschaft erklärt, stimmt sie in den großen Chor der Systemretter ein. Noch sind die herrschenden Verhältnisse elastisch genug, hier die Schraube enger zu ziehen, dort zu erpressen oder Krieg zu führen. Soziale Marktwirtschaft als Garantin einer gewissen Versorgungssicherheit ist kein Thema mehr, stellt die Kanzlerin doch den (deutschen) Staat als "Hüter der Ordnung" nach innen und außen allem voran.

Wie ein Wink mit dem Zaunpfahl folgt gleich im nächsten Absatz der Dank an jene, die "für unsere Sicherheit sorgen, hierzulande und fern der Heimat. Es sind unsere Soldatinnen und Soldaten, Polizistinnen und Polizisten und zivilen Helfer, die unter großen persönlichen Opfern ihren Dienst für uns tun." Wem es nicht paßt, daß Mut am Anfang des Handelns und Glück erst am Ende stehe, wie Merkel den griechischen Philosophen Demokrit zitierend allen Hungerleidern vors Schienbein tritt, der sei gewarnt: Für "unsere" Sicherheit ist gesorgt, warnt ihn die Kanzlerin, die auch 2013 "einmal mehr unsere größten Stärken unter Beweis stellen" will: "Unseren Zusammenhalt, unsere Fähigkeit zu immer neuen Ideen, die uns wirtschaftliche Kraft gibt. Dann bleibt Deutschland auch in Zukunft menschlich und erfolgreich."

Wer meint, in diesem Land nicht menschenwürdig zu leben und ebensowenig am Erfolg teilzuhaben, hat diesem Gesellschaftsentwurf zufolge seinen Anspruch auf uneingeschränkte Zugehörigkeit verwirkt. Das gibt die Kanzlerin all jenen mit auf den Weg ins neue Jahr, die nicht länger glauben wollen, daß der Verzicht ihres späteren Glückes Schmied sei.

Fußnoten:

[1] http://www.freiepresse.de/NACHRICHTEN/DEUTSCHLAND/Die-Neujahrsansprachen-von-Merkel-und-Tillich-im-Wortlaut-artikel8204303.php

[2] http://www.bild.de/politik/inland/angela-merkel/hoehere-diaeten-fuer-merkel-und-minister-27893182.bild.html

[3] http://www.gegen-hartz.de/nachrichtenueberhartziv/trotz-hartz-iv-erhoehung-faktisch-weniger-geld-9001283.php

[4] http://www.rp-online.de/wirtschaft/oettinger-noch-in-40-jahren-atomstrom-in-deutschland-1.3120281

31. Dezember 2012