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PROPAGANDA/1465: Jakob Augstein in schlechter Gesellschaft (SB)




Kaum ein Blatt unter den bürgerlichen Medien, das Jakob Augstein nicht gegen den Vorwurf verteidigt, zu den schlimmsten Antisemiten der Welt zu gehören. Zu Unrecht sei er in die schlechte Gesellschaft notorischer Judenhasser aus aller Welt geraten, wird dem Simon Wiesenthal Center (SWC) in Los Angeles entgegengehalten, das den Verleger und Journalisten auf Platz neun der diesjährigen "Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs" [1] gesetzt hat. Nicht nur die übel beleumdeten Mitbewerber um Platz eins der Negativliste lassen die Kritiker unisono die Beschädigung der Glaubwürdigkeit des renommierten, gegen Rassismus und Antisemitismus kämpfenden Instituts diagnostizieren. Den häufig in die Talkshows der Republik gebetenen Sproß eines der bekanntesten Verleger und Journalisten der BRD überhaupt als Antisemiten zu bezeichnen geht den Kollegen in den Feuilletons und Politmagazinen entschieden zu weit.

Einzugestehen, daß die öffentlich-rechtlichen wie privaten Medien selbst an der inflationären Anwendung und rufschädigenden Wirksamkeit dieses Vorwurfs beteiligt sind, davon ist der Chor der Entrüsteten weit entfernt. Die Diffamierung entschiedener Kritiker der israelischen Besatzungspolitik, die es wagen, von Siedlerkolonialismus oder Apartheidpolitik zu reden, wie die Unterstützung aggressiver Kriegshandlungen des Staates Israel unter dem Vorwand unabdinglicher Selbstverteidigung hat in deren Redaktionen eine lange bewährte Tradition. Mochten die Kritiker noch so viele objektive Belege für die völker- und menschenrechtswidrigen Praktiken israelischer Regierungen aufbieten, so lösten sich diese Argumente im Bannstrahl des Gesinnungsverdachts schneller auf, als daß sie einer rationalen Überprüfung unterzogen werden konnten.

Noch enger gefaßt wird die Schlinge dieser Bezichtigung im Metadiskurs über Theorie und Praxis des Antisemitismusvorwurfs. Wer es wagt, ihn mit dem Argument seiner politischen Instrumentalisierung in der Totalität seines Gültigkeitsanspruchs zu relativieren, zieht nicht nur den Vorwurf auf sich, Antisemiten und damit genozidalen Gefahren freie Bahn zu geben. Auch eine Kapitalismuskritik, die nicht von der Frage nach dem persönlichen Interesse an ökonomischen Ausbeutungsverhältnissen lassen kann, anstatt das Kapitalverhältnis im Prinzip subjektloser Herrschaft von jeglichem sozialen Antagonismus zu bereinigen, macht sich antisemitischer Ressentiments verdächtig. Fernab davon, notorischen Judenhaß nur bei Nazis und Islamisten zu verorten, wurde eine Linke, die es noch wagt, gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen imperialismustheoretisch und herrschaftskritisch auf den Grund zu gehen, zur bevorzugten Adresse für die Anwendung dieser Bezichtigung.

Mit der Kontaminierung der sozialen Frage durch das destruktive Vermögen eines unter Patenschaft des massenmörderischen NS-Regimes gestellten Gesinnungsverdachts feiert der ideologische Anti-Antisemitismus seinen größten Triumph. Besteht im Urteil über den Judenhaß jener Rassisten, die noch nicht ihre Allianz mit dem Staat Israel unter dem Banner der weißen Suprematie europäischer Zivilisation, des christlichen Zionismus, des neokonservativen Nationalismus und der kulturalistischen Islamfeindlichkeit erklärt haben, weitgehend Einigkeit, so ist an der Front der antikapitalistischen und antiimperialistischen Linken noch einiges zu tun, um sie auf das gleiche Niveau selbstevidenter Verwerflichkeit zu heben.

Die an der Partei Die Linke mit durchschlagendem Erfolg vorexerzierte Stigmatisierung einer Kritik an imperialistischer Kriegführung [2], die Israel als integralen Bestandteil der westlichen Hegemonialpolitik im Nahen und Mittleren Osten versteht, wird anhand der Person Jakob Augsteins auf diejenigen Teile des bürgerlichen Lagers ausgedehnt, die als unsichere Kantonisten einer Neuordnung der Region unter US-amerikanischer Führung gelten können. Der Inhalt der Zitate, anhand derer das SWC Augstein als Antisemit überführt, kann ohne weiteres als Negativ eines ordnungspolitischen Entwurfs gelesen werden, der nicht hinterfragt werden soll, weil er den Vorwandscharakter unermüdlich kolportierter Kriegsmotive enthüllte. Da diese in Europa nicht mehrheitsfähig sind, da die arabischen Aufstandsbewegungen neue Machtoptionen außerhalb der US-Hegemonie eröffnet haben und die Durchsetzung israelischer Staatsziele auf immer breitere Ablehnung stößt, muß das Instrument des Gesinnungsverdachts neu kalibriert werden, um Einbrüchen im Lager der Unterstützer Israels vorzubeugen.

Daß dies mit dramaturgischen Mitteln zwischen Demagogie und Realsatire versucht wird, verweist auf die inhaltliche Widersprüchlichkeit eines Antirassismus, zu dessen Ermächtigungsmitteln grausamste Praktiken aller Art gehören. Stellte man die vielen Zitate westlicher Anwälte Israels wie israelischer Regierungspolitiker, in denen die Folterung sogenannter Terrorverdächtiger, die Hinrichtung von Angehörigen palästinensischer Selbstmordattenäter, die Zerstörung der Häuser ihrer Familien, die fortdauernde Entrechtung der Palästinenser, ihre biologistische Entmenschlichung oder die Aberkennung der demokratischen Rechte und Ausweisung von Politikern der arabischen Minderheit in Israel verlangt wird, den vom SWC präsentierten Zitaten der schlimmsten Antisemiten gegenüber, dann würde schnell klar, daß den Urhebern dieses Top Ten-Prangers Selbstkritik ein Fremdwort sein muß.

Wenn Rabbi Abraham Cooper vom SWC Los Angeles, laut Tagesschau maßgeblich an der Erstellung der Rangliste beteiligt, als Evaluationskriterien für Antisemitismus die von dem israelischen Politiker und ehemaligem Berater des US-Präsidenten George W. Bush, Natan Sharansky, definierten drei D - "Doppelter Standard, Dämonisierung, und Delegitimierung" [3] - heranzieht, dann weiß man, daß nur ihre exklusive Inanspruchnahme davor schützt, selbst anhand dieser Maßstäbe zum Rassisten erklärt zu werden. Nur der sakrosankte Charakter des instrumentalisierten Antisemitismusverdachts hält den Kronzeugen in der Causa Augstein, Henryk M. Broder, frei davon, seinerseits als Urheber verächtlicher Propaganda angeprangert zu werden:

"Sie, Jakob Augstein, sind 'my favorite anti-Semite'. Ich meine das weder ironisch noch böse, auch nicht als Vorwurf. Ich würde nie einem Diabetiker vorwerfen, dass er auf Insulin angewiesen ist. Diabetes ist eine Krankheit, der Antisemitismus auch. Und so wie der Diabetiker seine tägliche Dosis Insulin braucht, braucht der Antisemit jeden Tag einen Schuss 'Judenblut' - natürlich nicht wörtlich, nur bildlich - um auf Kurs zu bleiben." [4]

Wo Broder nach Herzenslust austeilen, seine Gegner mit biologistischen Zuschreibungen zu unmündigen Opfern eigener Verblendung degradieren und jüdische Israelkritiker bezichtigen kann, bereitwillig als Feigenblätter antisemitischer Hetzer zu fungieren, da bleiben Fragen nach den sozialen Verhältnissen, die den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern als fortgesetzten, die jeweils eigenen Gesellschaften zerstörenden Kolonialismus kenntlich machen, erst recht auf der Strecke moralisierender Bezichtigungen. Der Antisemitismusvorwurf dient nicht nur der Rechtfertigung einer völkerrechtswidrigen Besatzungspolitik, er soll auch vergessen machen, daß die Probleme der meisten Menschen sehr viel handgreiflicher sind als die ideologischen Dispute, anhand derer um die Definitionshoheit auf den Kommandhöhen gekämpft wird. Dieses Stigma genährt zu haben, indem man es als Mittel antikommunistischer Apologie einsetzte, anstatt Antisemitismus trennscharf dort zu verorten, wo mit biologistischen und rassistischen Stereotypien dämonisiert wird, erweist sich am Beispiel Augstein als selbstgestellte Falle in einer Auseinandersetzung, deren materielle Gewaltverhältnisse mit ideologischen Ressentiments nur noch verschärft werden.

Fußnoten:

[1] http://www.wiesenthal.com/atf/cf/%7B54d385e6-f1b9-4e9f-8e94-890c3e6dd277%7D/TT_2012_3.PDF

[2] https://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0076.html

[3] http://www.tagesschau.de/inland/augstein100.html

[4] http://www.welt.de/debatte/henryk-m-broder/article111852281/Brief-an-meinen-Lieblings-Antisemiten-Augstein.html

3. Januar 2013