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PROPAGANDA/1486: Mythos Freihandel (SB)



Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer weiß es, Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel weiß es, der für transatlantische Beziehungen zuständige CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt weiß es, ja sogar US-Präsident Barack Obama weiß es: Es wird nach dem Inkrafttreten des Transatlantischen Handelsabkommens (TTIP) zu keiner Absenkung sozialer und ökologischer Standards kommen. Woher diese Herren ihr Wissen beziehen, das anläßlich der jüngsten Werbekampagne für einen baldigen Abschluß der Verhandlungen zur epochalen Bildung der weltgrößten Freihandelszone in Hannover heranzitiert wurde, bleibt indessen ihr Geheimnis. Daß sich dieses lüften läßt, auch ohne den nur begrenzt verfügbaren Text des Vertrages zu studieren, um den die EU-europäischen und US-amerikanischen Emissäre verhandeln, liegt in der Logik der von den gleichen Personen betonten Absicht, Handelshemmnisse aller Art zu beseitigen, um mehr Investitionen und Wettbewerb zu ermöglichen.

Gemeint sind nicht nur Zölle, sondern vor allem gesetzliche Vorbehalte, die den Primat der Kapitalverwertung zugunsten sozialer und ökologischer Interessen, die sich in der betriebswirtschaftlichen Bilanz des modernen Handelsstaates ausschließlich als Kostenfaktoren abbilden, einschränken. Was immer dem transnationalen Zugriff auf noch nicht ihrer Ökonomisierung unterworfene Nischen und Sphären des Lebens vorenthalten wird, soll eingespeist werden in die bereits arg stotternde, bei den immer häufiger vorkommenden Fehlzündungen stinkende Abgase ausstoßende Maschinerie des kapitalistischen Weltsystems. Da dies nur von Personen oder Unternehmen getan werden kann, die so liquide sind, daß sie nicht wissen, wohin mit dem ganzen Geld, fällt das Gros der Weltbevölkerung für diese Wachstumsoption aus. Die Menschen selbst werden zum Betriebsstoff deklariert, indem Lohnarbeit ebenso zum vertraglich vor Gewinnausfall nach staatlicher oder demokratischer Intervention geschützten Investitionsziel werden soll wie der Besitz von Eigentums- und Rechtstiteln, von Geldanlagen und Börsenwerten.

"Schuld oder Nichtschuld, das ist hier die Frage!", lautet die zeitgemäße Adaption eines Hamlet-Monologs, dessen existentielle Dramatik allerdings ungebrochen auf die Verhältnisse zu übertragen ist, die unter sogenannten Freihandelsbedingungen nicht erst Einzug halten, sondern die bereits herrschenden klassengesellschaftlichen Widersprüche vertiefen sollen. Die Bringschuld liegt auf der Seite all jener, die nichts als ihre physische Substanz und Dauer in die soziale Reproduktion, den Erhalt ihres Lebens unter den Bedingungen einer kapitalistischen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft, einzubringen haben. Das irgendwo um den Faktor 10 bis 20 überbewertete Geld, das sich nicht mehr auf dem allgemeinen, am Weltmarkt bestimmten Preisniveau als Gegenwert in Form von Ressourcen oder industriellen Produkten realisieren läßt, beansprucht für seine Eigentümer, Verfügungsgewalt über die Arbeit und damit die Lebensbedingungen der Menschen auszuüben.

Was im Sprachgebrauch der TTIP-Befürworter als nationalökonomisch bestimmte Steigerung der Investitionen, des Wettbewerbs und Wachstums in Erscheinung tritt, wird als Wirtschaftsmacht der Gläubiger, von deren Krediten ganze Staaten und Bevölkerungen abhängig sind, auf den Begriff eines Interesses gebracht, das von vornherein transnational organisiert ist. Schon die Unterstellung, bei der Schaffung grenzüberschreitender Wirtschaftsräume handle es sich um ein Unterfangen, als dessen Akteuren die Bevölkerungen der daran beteiligten Staaten fungierten, führt zielgerichtet in die Irre. Was die Gläubiger durch das Eigentum an Grund und Boden, an Gebäuden und Fabrikanlagen, an Rechtstiteln und Nutzungsansprüchen aller Art in die Lage versetzt, das Ihrige dadurch zu mehren, daß die Schuldner immer mehr Verluste erleiden, ist der verfassungsrechtliche Primat einer Gesellschaftsordnung, die Eigentum mehr schützt als zum Beispiel den Anspruch eines Menschen auf Nahrung, Wohnung, Kleidung, den Lebenswillen eines Tieres oder die Unversehrtheit anderer biologischer Organismen.

Ob diese Verluste nun als Zinslast eines Kredites, als mehrwertproduzierende Lohnarbeit oder ob die Entbehrungen eines Lebens in Erwerbslosigkeit manifest werden, die Bringschuld liegt ganz und gar auf der Seite derjenigen, die über kein Eigentum verfügen, mit dem sie auf die Seite der Investoren und Gläubiger wechseln könnten. An dieser ganz und gar materiellen, in Form physischen Mangels wie sozialer Deklassierung schmerzhaft wirksam werdender Existenzbedingung änderte ein transatlantischer Wirtschaftsraum auch dann nichts, wenn einige zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen würden, was angesichts der Erfahrungen mit bereits bestehenden Freihandelsabkommen wie NAFTA eher unwahrscheinlich ist. Allein die Aussicht, Arbeit zu fast jedem Lohn und unter fast jeder Bedingung annehmen zu müssen, kann kein Grund zur Freude, sondern Anlaß zum Widerstand gegen eine paternalistische Zumutung sein, die den Menschen in der Vielfalt seiner Interessen und Fähigkeiten auf ein Funktionsmodul in der Kette eines Produktionsprozesses reduzieren will.

Das Argument, die angeblich so hohen Sozial- und Umweltstandards würden nicht angetastet, ist durch den zentralen Zweck der Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung ins Reich eines bloßen Versprechens zu verweisen . Es bedarf des Zusatzes "leer" nicht, um die Substanzlosigkeit einer Behauptung zu erkennen, die gerade das für unantastbar erklärt, was als Marktöffnung in bislang noch nicht vollständig ökonomisierte Bereiche kapitalistischer Vergesellschaftung Zweck von TTIP und anderen Freihandelsabkommen ist.

Wie anders als durch eine Absenkung besagter Schutzstandards könnte über das beiderseitige Entgegenkommen bei der Einebnung "nichttarifärer Handelshemmnisse" verhandelt werden? Allein der Blick auf das bereits ausgehandelte Abkommen CETA zwischen Kanada und der EU wie auch auf zahlreiche andere bilaterale Freihandelsverträge verrät, daß der größte Interessengegensatz nicht zwischen den Vertragspartnern, also Staaten und die in ihnen angesiedelten Unternehmen, herrscht, sondern zwischen der mit Bringschuld an Arbeit und Lebenssubstanz beladenen Lohnarbeiterklasse und der in Wert zu haltenden Kapitalmacht der Eigentümerklasse beiderseits des Atlantik. Letztere übt im umgekehrten Verhältnis zu ihrer geringen Zahl übergroßen Einfluß auf den Gehalt der Freihandelsabkommen aus, und das liegt nicht nur an der großen Menge und Bemittelung der in Brüssel und Washington aktiven Wirtschaftslobbyisten. Schon die immanente Logik eines Kapitals, dessen Verwertung das Lebensinteresse der Menschen so gleichgültig ist wie eine hohe Profitrate unverzichtbar, besagt, daß jede neu durch die Privatisierung eines öffentlichen Gutes, durch die Ausweitung der Arbeitszeit und die Senkung des Arbeitslohnes, durch die rechtliche Aufrüstung von Eigentümerinteressen oder die Einschränkung des Schutzes von Tier- und Pflanzenwelt eröffnete Investitionschance dazu beiträgt, das dringend nach Anlage suchende Kapital in Wert zu halten.

Wie die Haltlosigkeit globaler Preisentwicklungen evident macht, verfügt dieser Wert weder über eine quantitativ bezifferbare Substanz noch ist er anderweitig Ausdruck eines Bestandes, auf den unabhängig von wechselnden gesellschaftlichen Bedingungen zugegriffen werden könnte. Dieser dem Ordnungsgefüge einer Wirtschaftslehre, die keine sozialen Widersprüche kennt, sondern rationales Agieren auf einem alle Akteure gleichermaßen bevor- und benachteiligenden Markt unterstellt, entsprungenen Behauptung gegenüber kann zumindest gesagt werden, daß alle Wertbestimmung mit dem sozialen Verhältnis zwischen Gläubigern und Schuldnern steht und fällt. Seit der Reorganisation der deutschen Arbeitsgesellschaft durch die Agenda 2010 oder die Einführung analoger Workfare-Konzepte in den USA wird die Bringschuld der Lohnabhängigen auch ganz offiziell immer weniger marktwirtschaftlich und immer mehr politisch organisiert.

Von daher kann auch der von den Kritikern der Freihandelsabkommen aufgemachte Gegensatz zwischen Markt und Staat nicht wirklich überzeugen. Wird an letzteren appelliert, doch die kapitalstarken Akteure der Privatwirtschaft an die regulatorische Leine zu nehmen, um soziale und ökologische Standards zu sichern, dann stellt sich die Frage, wieso Staaten überhaupt das Geschäft des Kapitals verrichten und dazu auch noch demokratische Rechte einschränken. Schaut man genauer hin, dann zeigt sich schnell, daß der Staat den Investoren und Eigentümern umfassend durch eine sie begünstigende Steuerpolitik, durch die Gewähr eines überproportionalen Einflusses auf die politische Gestaltung der Gesellschaft, durch handels- und ordnungspolitischen wie militärischen Investitionsschutz und einiges mehr zuarbeitet.

Ginge es um den Schutz von Mensch und Natur in der EU und den USA, dann stände die Aushandlung eines transatlantischen Sozial- und Umweltpaktes und nicht ein Freihandelsabkommen auf der Agenda. Die Befreiung des Kapitals zur Expansion in noch nicht von seinem Verwertungszwang erschlossene Räume und Praktiken gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion ermächtigt seine Sachwalter dazu, noch weitreichender über Leben und Sterben der Menschen zu gebieten. Was vielen schon aufgrund der Freiheitsrhetorik schwant, mit der neoliberale Politik verkauft wird, um dann gegenteilige Ergebnisse zu zeitigen, wird bei den platten Argumenten, hohlen Werbefloskeln und aggressiven Bezichtigungen, mit denen die TTIP-Befürworter den Interessengegensatz übertünchen, der sie von den Empfängern von Arbeitslohn und Sozialleistungen trennt, zu unwiderlegbarer Gewißheit.

Auf offenkundig widersinnige Versprechungen nicht hereinzufallen gelingt desto besser, wenn auch vieles andere, worin Freihandelsgegner Zuflucht suchen, auf den Prüfstand gestellt wird. Der erste Schritt in diese Richtung wurde allerdings getan. Daß viele Menschen in der Bundesrepublik erstmals über internationale Handelspolitik nachdenken und diskutieren, daß sie sogar auf die Straße gehen, um Freihandelsabkommen zu verhindern, könnte zu weiterführenden Fragen Anlaß geben, die so interessant sind, daß aktive Streitbarkeit über passive Resignation, kollektives Handlungsvermögen über konkurrenzgetriebene Isolation siegen.

26. April 2016


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