Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

RAUB/0868: Ausbeutung durch Arbeit pharmakologisch verdichtet (SB)



Wer die international geführte Debatte um das sogenannte Neuro-Enhancement, auch als Hirndoping populär gemacht, verfolgt, weiß, daß die Einnahme leistungssteigernder Substanzen keineswegs so negativ bewertet wird wie etwa der Genuß verbotener Rauschdrogen. Was im Sport anhand des Vorwurfs betrügerischer Vorteilsnahme kriminalisiert wird, verfügt in der Arbeitswelt längst über hochgradige Akzeptabilität. Es mehren sich Stellungnahmen renommierter Wissenschaftler, die sich für einen liberalen Umgang mit leistungssteigernden Psychopharmaka einsetzen [siehe dazu POLITIK-KOMMENTAR-KULTUR/0753], und allem Anschein nach treffen sie auf sehr viel mehr gesellschaftliche Toleranz als beim Reizthema des Konsums illegaler Rauschmittel oder des Dopings im Sport. Laut einer nicht repräsentativen Umfrage unter Akademikern, die das Fachjournal Nature letztes Jahr durchführte, greifen zwölf Prozent der Befragten regelmäßig zu leistungssteigernden Psychopharmaka (heise online, 13.02.2009).

Es kann daher nicht erstaunen, daß laut der jetzt veröffentlichten Studie der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) "Gesundheitsreport 2009" 800.000 Berufstätige regelmäßig ohne medizinische Indikation zu Psychopharmaka greifen. Insgesamt jeder dritte der 3000 Befragten Arbeitnehmer zwischen 20 und 50 Jahren hält es für vertretbar, mit dem Griff zu Medikamenten die Leistung am Arbeitsplatz zu steigern. Auch wenn das nicht bedeutet, daß Millionen Menschen nur noch mit medikamentöser Hilfe den Anforderungen der Arbeitswelt gerecht werden können, so scheint es sich beim gelegentlichen Griff zu Aufputsch- oder Beruhigungsmitteln im Arbeitsalltag um ein Massenphänomen zu handeln.

Über den bereits in anderen Studien festgestellten arbeitsbedingten Zuwachs an psychischen Erkrankungen hinaus haben offensichtlich viele Lohnabhängige und Selbstständige Anlaß, zu pharmakologischen Krücken zu greifen, um den Stand ihrer Arbeits- und Leistungsfähigkeit zu verbessern oder zumindest zu erhalten. Ob es nun darum geht, bei besonders schwierigen Anforderungen die Konzentrationsfähigkeit zu steigern, bei extrem langen Arbeitszeiten die Müdigkeit zu vertreiben, die Stimmung aufzuhellen, um im Dienst am Kunden allen widerstrebenden Neigungen zuwider ein freundliches Gesicht machen zu können, oder Ängste zu lindern, die aus Konkurrenzsituationen im Betrieb oder im Kontakt mit Vorgesetzten entstehen, für den bunten Strauß psychisch wirksamer Medikamente gibt es gerade im Beruf zahlreiche nichtmedizinische Indikationen.

Hier von Doping am Arbeitsplatz zu sprechen greift zu kurz. Damit wird der Eindruck erweckt, der Konsum leistungssteigernder, stimmungsaufhellender oder beruhigender Substanzen am Arbeitsplatz werde ähnlich, wie die Diskussion um das Doping im Sport suggeriert, nur im Spitzensegment zum Erzielen besonderer Leistungen betrieben. Das Problem scheint jedoch gerade nach unten, wo die Menschen von Angst um den Verlust ihres Arbeitsplatzes umgetrieben werden, zu entufern. Vor dem Hintergrund wieder wachsender Arbeitslosenzahlen, einer Weltwirtschaftskrise ungeahnten Ausmasses, der Diskriminierung älterer Arbeitnehmer und dem drohenden Absturz in die Armut wächst die Bereitschaft der Lohnabhängigen zur Selbstausbeutung erheblich.

Die Frage, wie man mit den Bedingungen einer entfremdeten, weil allein über den Tausch von Arbeitskraft gegen Geld regulierten Arbeitswelt zurecht kommt, wird auch zu wirtschaftlich besseren Zeiten kaum mehr gestellt. Gerade darin, daß dem Lohnabhängigen aufgezwungen wird, sich körperlich wie geistig den an ihn gestellten Anforderungen nachzuordnen, besteht jedoch das grundlegende Problem der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft. In der Klammer zwischen drohendem Arbeitsplatzverlust und Verdichtung der Leistungsanforderung wird den Betroffenen die Bereitschaft abgenötigt, die physischen und emotionalen Grenzen persönlicher Belastbarkeit zu überschreiten. Da dies im Rahmen schicker Lifestyle-Attribute und programmatischer Selbstoptimierung geschieht, wird mit dem Konsum von Psychopharmaka jenseits konventioneller medizinischer Verordnungen, die ihrerseits häufig genug dem Zweck einer bloßen Reparatur des durch Lohnarbeit beschädigten Menschen dienen, zusätzliche Akzeptanz zur intensivierten Selbstausbeutung geschaffen.

Die chemische Regulation systemischer Widersprüche trägt dazu bei, daß der Streit um die Kosten der gesellschaftlichen und ökonomischen Reproduktion nicht offensiv gegen die von diesem Verwertungssystem am meisten profitierenden Eliten geführt wird, sondern zu Lasten der physischen wie psychischen Substanz der Lohnabhängigen geht. Mit dem anwachsenden Konsum leistungsteigernder Medikamente wird den Interessen des medizinaladministrativen und pharmaindustriellen Kartells gleich in mehrfacher Hinsicht entsprochen - der steigende Absatz der konsumierten Medikamente erhöht den Profit, der habituelle Gebrauch zeitigt eine genereller Erhöhung der Leistungsnorm, die Erforschung pharmakologischer Verhaltenskonditionierung führt zu Erkenntnissen, die sich auch auf Feldern wie dem der Kriegführung nutzen lassen, Nebenwirkungen und Folgeerkrankungen schaffen medizinischen Handlungsbedarf und vertiefen die Subordination des Menschen als Patient, die Betroffenen verlieren allen Sinn und Verstand dafür, daß sie Opfer einer Fremdbestimmung sind, mit der ihnen vorgegaukelt wird, im eigenen Interesse zu handeln.

13. Februar 2009