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RAUB/0872: Auf dem Weg zum Übermenschen ... (SB)



Die einen fühlen sich bemüßigt, Langzeiterwerbslosen Menüvorschläge zu machen, um zu zeigen, daß man auch mit 4,40 Euro am Tag gut leben kann. Wie dies bei den Betroffenen ankommt, ist nicht weiter von Interesse, geht es derartigen Chefköchen ausschließlich darum, die Galerie der Sozialvoyeure zu bedienen. Kochbücher für Arme oder Speisepläne aus der Hand des Berliner Finanzsenators und künftigen Bundesbankers Thilo Sarrazin dienen bourgeoiser Beschwichtigung und nicht der Aufklärung von Betroffenen, die allemal um die Probleme ihrer Lebensführung wissen. Man will sich nicht der moralischen Anfechtung aussetzen, daß die eigene Sattheit vom Hunger der anderen genährt wird.

Für die weniger Feinfühligen wird das Ressentiment gegenüber dem Lumpenproletariat ohne Umweg über die Rechtfertigung eigenen Wohllebens in Stellung gebracht. Wenn der Chef der Jungen Union, das CDU-Präsidiumsmitglied Philipp Mißfelder, behauptet, "die Erhöhung von Hartz IV war ein Anschub für die Tabak- und Spirituosenindustrie" (Spiegel Online, 20.02.2009), dann reiht er sich ein in die wachsende Schar ausgesprochener Sozialrassisten, denen Armut synonym mit Delinquenz ist. Allem Anschein nach gemeint war die bescheidene Erhöhung des Regelsatzes zum 1. Juli 2008 um 4 Euro auf 351 Euro monatlich für einen Erwachsenen. Selbst wenn sie es wollten, könnten sie ihr Geld kaum auf vom Gesetzgeber ungeplante Weise ausgeben, besitzen die Betroffenen seitdem doch kaum mehr finanziellen Spielraum als zuvor.

Ohnehin fällt die Anprangerung eines Genußmittelkonsums einfachster Art hinter die Enthaltsamkeitspredigten fanatischer Temperenzler zurück. Daß der Mensch nicht nur vom Brot allein lebt, weiß vermutlich auch ein Mißfelder, dessen private Obsessionen niemanden etwas angehen. Indem Hartz IV-Empfänger weitgehend vom kulturellen und gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden, indem ihnen sogar die Gemeinschaft von Gleichgesinnten durch die stets nach Bedarfsgemeinschaften fahndende Sozialpolizei schwer gemacht wird, entsteht bei ihnen weit mehr seelische Not als bei gutsituierten Bürgern. In der Person Mißfelders, der bereits mit dem Vorschlag der Einsparung medizinischer Leistungen bei alten Menschen von sich reden gemacht hat, läuft der neue Prohibitionismus, der den Menschen auf das Maß seiner optimalen Verwertbarkeit trimmen und jeden sich dieser Pflicht entziehenden Freiraum selbstbestimmten Lebens schließen will, zusammen mit der aktiven Mangelproduktion der Arbeitsgesellschaft zu einer besonders abstoßenden Form aggressiver Bigotterie auf.

Die notorische Diskriminierung von Langzeiterwerbslosen als faul, unmotiviert und indolent, sprich parasitär, ist zwar in einer mit steigenden Arbeitslosenzahlen einhergehenden Wirtschaftskrise noch weniger als schon zuvor nicht mit der Lebensrealität der Betroffenen in Deckung zu bringen. Doch darum geht es nicht. Mit ihr wird einer Diffamierung zugearbeitet, die sich als probates Feindbild eines Tages so verselbständigen wird, daß man mit den Betroffenen auf jede nur erdenkliche Weise verfahren kann.

Es ist kein Zufall, daß Mißfelder mit seiner eher zufällig bekanntgewordenen Äußerung auf Verständnis - der junge Mann ist eben noch kein glattgeschliffener Vollprofi - und Zustimmung stößt. Die Krise nicht nur des Wirtschaftsystems, sondern der generellen Verfügbarkeit lebenswichtiger Ressourcen schafft beste Voraussetzungen für eine sozialdarwinistische Gesellschaftsordnung, in dem sich jeder mehr noch als bisher der nächste ist, auf daß die Beherrschbarkeit aller auch in Zukunft garantiert ist. Die im Rahmen der Finanzkrise offengelegten Raubstrategien des Finanzkapitals firmieren in der Werteskala der Stärke nicht etwa als moralisch verwerflich, sondern als Ausweis besonderer Leistungs- und Durchsetzungsfähigkeit.

Das Niederdrücken der Hungrigen durch das Gewicht der Satten führt zu einer Kultur stetig verfeinerter Selektionskriterien. Rauchen und Trinken oder andere Gewohnheiten, die auf Abweichung vom Primat der Selbstbehauptung schließen lassen, werden als vorgebliche Charakterschwächen gnadenlos kenntlich gemacht. Der daraus synthetisierte Übermensch mag ein besonders monströser Räuber sein, doch die Möglichkeit der Befreiung von Not und Zwang hätte er mit seinen angeblichen Fehlern nicht wirksamer eliminieren können.

20. Februar 2009