Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

RAUB/0912: Hungersnot in Kenia, verfallende Erzeugerpreise in Deutschland (SB)



In Kenia herrscht eine Hungersnot, von der rund vier Millionen Menschen akut bedroht sind. Das Ausmaß der Katastrophe führte die Regionalkoordinatorin der Welthungerhilfe für Ostafrika, Iris Krebber, den Zuhörern des Deutschlandradios Kultur (28.08.2009) auf eindringliche Weise vor Augen. Die Aussage der Moderatorin, daß die Ähren auf den Feldern verdorrten, kommentiert sie mit der Richtigstellung, daß die Dürre dieses Jahr so schlimm ist, daß nicht einmal Ähren auf den Feldern zu sehen sind. Krebber faßt die Lage in das Bild, daß sie sich als Kind immer vorgestellt habe, so müsse es nach dem Dritten Weltkrieg aussehen. Die hungernden Menschen wüßten nicht ein noch aus, da es praktisch nichts zu essen gebe und es auch an Trinkwasser mangle.

Ihrer Ansicht nach sei die Summe von gut 160 Millionen Euro, um die das Welternährungsprogramm (WFP) für die akute Nothilfe in Kenia bis Dezember gebeten habe, viel zu gering, da man bei allen Nahrungsmittelempfängern von der Annahme ausgehe, daß sie keine vollständige Nahrungsmittelration für einen Tag brauchten, sondern lediglich die Hälfte oder drei Viertel. Andere Nahrungsquellen, die diese Kalkulation voraussetzt, gibt es laut Krebber für die Armutsbevölkerung Kenias jedoch nicht, so daß der wirkliche Bedarf annähernd doppelt so hoch sei wie die Menge, von der das WFP bei seinem Mittelbedarf ausgeht. Die Finanzlage der Hilfsorganisationen sei aufgrund der Weltwirtschaftskrise besonders eng, dabei habe das WFP ihr Programm dieses Jahr bereits nahezu verdoppelt, um nur die Nothilfe bezahlen zu können, so die Bilanz der in Nairobi lebenden Mitarbeiterin dieser deutschen Hilfsorganisation.

Der eindrückliche Bericht Krebbers, die mehrmals wiederholte, daß sich die Menschen in den reichen Staaten gar nicht vorstellen könnten, wie die Situation in den Hungergebieten, die sich durch den Klimawandel in den letzten Jahren drastisch verschärft habe, sei, wirft die Frage auf, wieso ein aktuell erforderlicher Nothilfebetrag von 160 Millionen Euro so schwer zu mobilisieren ist, wenn gleichzeitig Millardensummen für die Rettung von Banken und andere keineswegs unverzichtbare Ausgaben zur Verfügung stehen. Die Einschätzung Krebbers, daß die wirtschaftliche Lage in den Industriestaaten der Grund für die nur unzureichende gewährte Hilfe sei, kann in Anbetracht der Beträge, um die es geht, kaum zutreffen.

In vielen Teilen der Welt gehen die Getreideernten zurück, gleichzeitig sorgt die deflationäre Preisentwicklung dafür, daß die Erzeuger für ihren Weizen nicht ausreichend bezahlt werden. So haben die deutschen Bauern dieses Jahr eine relativ gute Ernte eingefahren, sind aber durch historische Tiefstpreise in ihrer Existenz bedroht. Die diesjährigen Getreidepreise liegen nach Angabe des Deutschen Bauernverbands (DBV) um bis zu 45 Prozent unter Vorjahresniveau (Neues Deutschland, 22.08.2009). Nach marktwirtschaftlicher Logik soll der Preis durch Angebot und Nachfrage gebildet werden, und an Nachfrage besteht bei über einer Milliarde hungernder Menschen sicherlich kein Mangel.

Allerdings ist diese Nachfrage nicht durch Kaufkraft gedeckt, sprich die Menschen sind so arm, daß sie die seit Beginn der sprunghaften Preissteigerungen für Nahrungsmittel im Jahr 2007 generell teurer gewordenen und trotz der weltweiten Rezession nicht auf das damalige Preisniveau zurückgekehrten Lebensmittel nicht bezahlen können. Die Globalisierung des Getreidehandels hat weitgehend einheitliche Weltmarktpreise geschaffen, die es Menschen in Ländern mit hohem Produktivitätsniveau möglich machen, auch bei geringem Einkommen satt zu werden, während viele Bewohner der Länder mit niedrigem Produktivitätsniveau mehr Geld zum Sattwerden ausgeben müßten, als sie überhaupt verdienen.

Das von den Staaten mit hochindustriealisierter Landwirtschaft vorgegebene Preisniveau sorgt also dafür, daß die dort produzierenden Bauern kaum noch von ihrer Arbeit leben können, während die Menschen in anderen Teilen der Welt, in denen der Getreideanbau noch extensiv unter hohem Anteil an menschlicher Arbeit betrieben wird, bei jeder Dürre, die aufgrund der veränderten klimatischen Bedingungen immer häufiger auftreten und immer länger andauern, unmittelbar von Hunger bedroht sind. Die einfache Rechnung, den Produzenten in den Ländern des Nordens mehr zu bezahlen, um mit ihren Erträgen zumindest Nothilfe leisten zu können, verträgt sich nicht mit dem kapitalistischen Verwertungsprinzip. Danach soll im Bereich der Nahrungsmittelproduktion Rendite generiert werden, was wie in anderen Wirtschaftsbereichen unter der Prämisse erfolgt, den kostspieligen Anteil an menschlicher Arbeit zu verringern und durch maschinelle und elektronische Systeme zu ersetzen.

Ein Ergebnis dieser marktwirtschaftlichen Logik besteht darin, daß ein großer Teil der Ressourcen, die für die Landwirtschaft aufgewendet werden, in die Erzeugung von Agrosprit investiert wird, weil dort Bedarf besteht, der durch Kaufkraft gedeckt ist. Man denkt angebotspolitisch und dient sich dem Interesse der Kapitalinvestoren an, anstatt das Interesse aller Menschen an ausreichender Ernährung zum zentralen Kriterium wirtschafts- und handelspolitischer Entscheidungen zu erheben. Das Betreiben von Autos, Treckern und Panzern, sprich der Treibriemen kapitalistischer Wertschöpfung und die Dynamik imperialistischer Politik, ist wichtiger als das Überleben von Hungerleidern, die ohnehin keine Entwicklungsperspektive haben, weil die viele Jahre nicht nur als Heilsweg in die industrielle Moderne angepriesene, sondern armen Ländern bei der Kreditvergabe abgenötigte Haushaltsdisziplin und Exportorientierung keineswegs die Bedingungen geschaffen hat, daß diese Länder auch nur ihre Bevölkerungen ernähren könnten.

Nachdem die meisten Volkswirtschaften des Südens durch die Übernahme des neoliberalen Entwicklungsmodells in Abhängigkeiten geraten sind, die weit schwerer zu kontrollieren sind als der Aufbau einer Substitutionswirtschaft auf niedrigem Niveau, nachdem die daraus resultierenden Wachstumsanreize in der weiteren Spreizung der Vermögensunterschiede verpufft sind, so daß die armen Bevölkerungsschichten dem Hunger noch schutzloser ausgeliefert sind, nachdem der schuldengetriebene Ausverkauf der eigenen Ressourcen sogar dazu geführt hat, daß kapitalstarken Investoren aus reichen Ländern wertvolle Anbauflächen veräußert werden, wird Nothilfe aufgrund der fehlenden Entwicklungsperspektive nur zögerlich geleistet. Man will im Grunde genommen kein Geld für die Fortschreibung eines Problems ausgeben, das man selbst mitzuverantworten hat, weil die diesen Ländern aufoktroyierten Programme des Strukturwandels und der Globalisierung nicht im versprochenen Sinne funktioniert haben.

Die Expansionszonen des stets nach neuen Anlagemöglichkeiten suchenden Kapitals werden von den materiellen Folgen der Wirtschaftskrise deshalb so hart getroffen, weil die hochproduktiven Staaten nicht etwa "Stabilität", sondern mit der Verallgemeinerung ihrer Verwertungsbedingungen auch deren Scheitern exportiert haben. Während die Krise hierzulande zuerst am Finanzkapital sichtbar wurde, schlägt sie in Ländern, deren Wirtschaft weitgehend auf Rohstoffexporten und vorindustrieller Güterproduktion beruht, unmittelbar auf die nicht mehr gefragten Produkte durch. Der mit Privatisierung, Investitionssicherheit und dem Verzicht auf Handelshemmnisse markierte Entwicklungshorizont fällt auf die reale Unterentwicklung subsistenter Strukturen zurück und hinterläßt Einöden, die auch ohne Dürreperioden nicht grüner würden.

Dementsprechend irreführend ist die Vermutung der Menschen in den Ländern des Nordens, sie könnten sich durch die Abschottung und Ausgrenzung des Mangels vor dem Hunger dauerhaft schützen. Allein der Blick in die USA, wo Millionen Menschen nicht genug zu essen haben, obwohl das Land der größte Getreideproduzent der Welt ist, wo die Schlangen vor den Suppenküchen immer länger werden und die ausgegebenen staatlichen Essensmarken Rekordzahlen erreichen, zeigt, daß der täglich gefüllte Magen auch in den Metropolengesellschaften keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Von der Logik einer Mangelproduktion, bei der Verluste respektive Schulden akkumuliert werden, um neue Instrumente der Verfügungsgewalt in noch weniger Hände zu legen zu können, sind Menschen prinzipiell betroffen, wenn sie ihr Überleben an das Kapitalverhältnis knüpfen.

Um so dringlicher ist es, das Problem der Ernährungssicherheit ganz oben auf die politische Agenda zu setzen und nicht darauf zu verzichten, Grundsatzkritik an der herrschenden Verwertungsordnung zu üben. Wenn die Nahrungsmittelproduktion nach Vollendung des systematisch vollzogenen Bauernsterbens weitgehend unter Kontrolle transnationaler Konzerne steht, die vom Saatgut bis um Laib Brot alle Produktionssstufen ihren Interessen unterwerfen, dann ist es noch problematischer, zu einer kleinteiligen, dezentralisierten, umweltverträglichen, tierfreundlichen und humanen Landwirtschaft zu gelangen.

28. August 2009