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RAUB/0965: Warnung vor Hungeraufständen - Destabilisierungsstrategie statt entschiedener Hilfe (SB)



Laut den Vereinten Nationen hat Pakistan bislang Spenden und Hilfszusagen in Höhe von insgesamt 850 Millionen Dollar erhalten. Dennoch warnt das UN-Welternährungsprogramm vor einer schweren Hungersnot, hätten doch jetzt schon Millionen von Menschen nicht genug zu essen. Die mittelfristige humanitäre Katastrophe, die der im Süden des Landes weiterhin zunehmenden Überflutung folgen wird, kann Ausmaße des Mangels annehmen, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen. Da neunzig Prozent der Reisvorräte in den Lagerhäusern und der anstehenden Ernte durch die Fluten vernichtet wurden, ist Pakistan auf eine Nahrungsmittelhilfe angewiesen, die mit den bislang mobilisierten Finanzmitteln keineswegs zu bezahlen ist. Zudem ist das Problem, wie die Lebensmittel zu den Hungernden gelangen, bislang ungelöst.

Zu allem Überfluß wird die Katastrophe von einer politischen Großwetterlage überschattet, die von ganz anderen Interessen dominiert wird als demjenigen, den notleidenden Menschen zu helfen. So hat die Regierung in Islamabad das Sammeln von Spenden durch islamistische Organisationen verboten, um zu verhindern, daß oppositionelle Gruppierungen politisches Kapital aus der Notlage schlagen. Dabei ist die Regierung des Landes auch mit der mobilisierten Armee nicht in der Lage, die Situation auch nur annähernd zu bewältigen. Um so mehr Sorge machen sich die Machthaber um die eigene Sicherheit. So hat Außenminister Shah Mehmoud Qureshi letzte Woche gegenüber dem Wall Street Journal (19.08.2010) davor gewarnt, daß Hungeraufstände von islamistischen Gegnern der Regierung zu ihren Gunsten instrumentalisiert werden könnten.

Die Streitkräfte des Landes sind nicht nur aufgrund massiver US-Militärhilfe, sondern schon des Eigeninteresses der pakistanischen Oligarchie am Schutz ihrer Privilegien die in dieser Situation am besten funktionierende Staatsinstitution. Sollten die verzweifelten Menschen in ihrer Not zum äußersten greifen und sich, so fern überhaupt vorhanden, gewaltsam Zugang zu Nahrungsmittelvorräten verschaffen, dann ist es für die Niederschlagung derartiger Aufstände unerheblich, ob sie von regierungsfeindlichen Kräften initiiert wurden oder nicht. Qureshis Warnung kann daher als Vorwand verstanden werden, den eigenen Sicherheitskräften Carte blanche zur massiven Unterdrückung aller Versuche der Bevölkerung, die herrschende Eigentumsordnung zu mißachten, zu geben.

In der am Unterlauf des Indus gelegenen Provinz Sindh, in der 40 Millionen Menschen leben und in der die Taliban besonders viel Unterstützung genießen sollen, steigt das Wasser weiter an. Die internationalen Hilfsorganisationen sind jedoch schon von den bisherigen Anforderungen völlig überfordert. Gleichzeitig gehen die Angriffe US-amerikanischer Drohnen in den Grenzgebieten zu Afghanistan unvermindert weiter. Erst am Montag wurden bei einem US-Raketenangriff in Waziristan 20 Menschen getötet, darunter Frauen und Kinder. Es bedarf keines besonderen Vorstellungsvermögens, wie so etwas auf Menschen wirkt, die um ihr nacktes Überleben kämpfen. Die US-Angriffe auf pakistanischem Territorium sind einer der Hauptgründe für die wachsende Opposition gegen die Regierung des Präsidenten Asif Ali Zardari, der von Washington gestützt wird, weil er unter den in Frage kommenden Fraktionen noch am ehesten als Gewährsmann der USA gelten kann. Da Zardari sich zudem unbeliebt gemacht hat, weil er nach Beginn der Katastrophe nicht sofort nach Pakistan zurückgekehrt ist, sondern unbeirrt seinen Urlaub fortsetzte, gibt es genügend Gründe dafür, daß seine Regierung stürzt, ohne daß es dazu eigens des Einflusses der islamistischer Kräfte bedürfte.

In den NATO-Staaten gibt man sich besorgt über die Situation, entscheidet sich aber nicht dafür, die humanitäre Hilfe drastisch auszuweiten und die militärischen Aktivitäten sofort einzustellen. Wenn es darum ginge, ein Zeichen zu setzen und die Bevölkerung für sich und gegen die Taliban einzunehmen, dann gelänge dies nur mit einer entschiedenen und großangelegten Hilfskampagne. Da der politische Wille dafür fehlt, liegt es nahe, auf eine Destabiliserungsstrategie zu schließen. Schon zuvor wurde in westlichen Think Tanks darüber nachgedacht, ob es nicht am besten wäre, Pakistan zerfallen zu lassen, um seine Partikel noch enger unter Kontrolle der USA und ihrer Verbündeten zu bringen. Eine andere Möglichkeit bestände in der Etablierung einer Militärdiktatur, bei der allerdings sicherzustellen wäre, daß ihre Führer tatsächlich mit den NATO-Staaten kooperierten. Auf jeden Fall bietet diese Jahrhundertkatastrophe die Möglichkeit, Pakistan auf viele Jahre hinaus in eine Abhängigkeit zu manövrieren, die der Neuordnung der Region Zentral- und Südasien durch USA und EU neue Perspektiven eröffnete.

24. August 2010