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RAUB/0969: "Multikulti ist tot" - Angriff auf subalterne Klasse (SB)



Der Abgesang führender Unionspolitiker auf die "Multikulti"-Gesellschaft befleißigt sich integrationspolitischer Forderungen, die nichts anderes bezwecken als die optimierte Verfügbarkeit nichtdeutscher Arbeitskräfte für das in Deutschland angesiedelte Kapital. Was sich als Debatte um Differenzen zwischen Herkunftsdeutschen und Zugewanderten kulturalistisch larviert, zielt im ersten Schritt auf die Unterordnung aller von ihrem Rechtsstatus her benachteiligten und ihrer ethnisch-religiösen Herkunft her minoritären Gruppen nicht etwa unter die deutsche Mehrheitsgesellschaft, sondern das Verwertungsinteresse des sie bestimmenden Kapitalinteresses ab. Die ihre fremdenfeindliche Disposition zum eigenen Vorteil ummünzende Mehrheit verkennt, daß die Stoßrichtung der Forderung, die längst zum Schimpfwort verkommene Multikulti-Doktrin zu überwinden, im zweiten Schritt die Atomisierung des Klasseninteresses aller abhängig Beschäftigten und Empfänger von Transferleistungen bezweckt.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagt es denn auch ganz unverhohlen: "Natürlich war der Ansatz zu sagen, jetzt machen wir hier mal Multikulti, leben so nebeneinander her und freuen uns übereinander, dieser Ansatz ist gescheitert, absolut gescheitert". Nebeneinander herleben ist als abwertende Metapher für ein egalitäres Verhältnis verschiedener gesellschaftlicher Gruppen zueinander nicht mißzuverstehen, und auch CSU-Chef Horst Seehofer stellt sich ganz offen zur weiteren Hierarchisierung der Gesellschaft: "Wir als Union treten für die deutsche Leitkultur und gegen Multikulti ein. Multikulti ist tot."

Programmatischer Kern der sogenannten Integrationsdebatte ist das Erringen eines nationalen Standortvorteils, mit Hilfe dessen die propagierte Freiheit des Welthandels nicht nur durch das Ausbeuten von Produktivitätsunterschieden, sondern die protektionistische wie sozioökonomische Zurichtung des Produktionsfaktors Mensch räuberisch artikuliert wird. So schlägt die FDP ein Punktesystem für Zuwanderer vor, mit dem Arbeitsmigranten auf ihre Tauglichkeit für hiesige Kapitalinteressen hin überprüft werden. Auf diese Weise will man die in Erziehung und Ausbildung steckenden volkswirtschaftlichen Leistungen ökonomisch schwächerer Staaten für den Standort Deutschland nutzbar machen. Der beabsichtigte Brain Drain wird auch deshalb nicht mit dementsprechenden Privilegien handels- und entwicklungspolitischer Art quittiert, weil die massiven internationalen Verteilungsunterschiede Voraussetzung für eine Arbeitsmigration sind, die den Bedingungen der Zielländer unterworfen ist.

So erweist sich das angeblich offene System der Globalisierung einmal mehr als Einbahnstraße eines weltwirtschaftlichen Gefälles, das die Ausbeutbarkeit der Länder des Südens durch die hochindustrialisierten, finanzkapitalistisch organisierten Metropolengesellschaften des Nordens sicherstellen soll. Die Bundesbürger wollen die Vorteile eines Produktivitätsunterschieds, der die eigene Akkumulationsschwäche wie die humanen und ökologischen Kosten der Gütererzeugung durch den Konsum kostengünstiger Waren in die herstellenden Billiglohnländer exportiert, weiterhin nutzen, ohne mit den Verelendungsfolgen dieses sozialen Gefälles konfrontiert zu werden. Setzte man den nationalen Anspruch auf völlige Abwehr oder eigennützige Steuerung der Zuwanderung ins Verhältnis zu den ökonomischen Vorteilen, die der Bundesrepublik aus dem Verbrauch weltweit produzierter Ressourcen erwachsen, dann müßte dies eigentlich in die ökonomische Autarkie der EU münden. Wie es dann um den Wohlstand der Bundesbürger bestellt wäre, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden.

Je konsequenter und differenzierter die verwertungstechnische Qualifikation von Zuwanderern angewendet und institutionalisiert wird, desto lauter wird die Forderung erhoben werden, dieses System auch auf die eigene erwerbslose und lohnabhängige Bevölkerung anzuwenden. Der Verwertungsgriff in den Humanfaktor ist seinerseits Ausdruck der Akkumulationsschwäche des Kapitals, die mit Kostensenkung und Spezialisierung im Arbeitsbereich ökonomisch zu punkten versucht, weil die klassischen Strategien territorialer und ökonomischer Expansion zusehends an die Grenzen internationaler Ressourcenkonkurrenz stoßen.

Hat sich so ein verwertungsmaximierendes System der Evaluation und Selektion erst einmal bewährt, dann gibt es keinen Grund dafür, es auf Arbeitsmigranten zu beschränken. Es ist denn auch kein Zufall, daß sich ver.di-Chef Frank Bsirske gegenüber dem von der FDP vorgeschlagenen Punktesystem mit den Worten aufgeschlossen zeigt: "Wenn das mit einer Offenheit gegenüber Zuwanderern und vernünftigen Integrationsangeboten im Sinne von Fordern und Fördern einhergeht, dann kann das zielführend sein". Fordern und Fördern bleibt auch aus gewerkschaftlicher Sicht das zentrale Mittel der Zurichtung menschlicher Arbeitskraft auf die Rentabilitätsforderungen des Kapitals. Das betrifft eben nicht nur Zuwanderer, sondern alle Lohnabhängigen und Erwerbslosen, die unter den Zwang eines Arbeitsregimes gestellt werden, das die Überlebenskonkurrenz bis in die kleinste soziale Einheit vorantreibt. Der kulturalistische und islamfeindliche Tenor der sogenannten Integrationsdebatte ist Wasser auf die Mühlen eines Sozialrassismus, dessen primärer Zweck in der Zurichtung aller Menschen auf den ihr Lebensrecht bilanzierenden Leisten individueller Verfüg- und Verwertbarkeit besteht.

17. Oktober 2010