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RAUB/0983: Ob Frieden oder Krieg ... mörderische "Flüchtlingsabwehr" der EU (SB)



Bis zu 250 von 300 Flüchtlingen aus Libyen ertrinken inmitten einer von starken militärischen und polizeilichen Kräften überwachten und patrouillierten Region des Mittelmeers. Business as usual, könnte man in Anbetracht der zahlreichen MigrantInnen meinen, die bereits den Versuch, Zutritt zur Festung Europa zu erhalten, mit ihrem Leben bezahlten, wie angesichts der schnell wieder aus den Schlagzeilen verschwundenen Nachricht über diese menschliche Katastrophe. Daß sie sich im Kontext eines Krieges, der angeblich aus humanitären Motiven geführt wird, ereignet, aber so dargestellt wird, als handle es sich um ein zwar tragisches, aber im Rahmen der EU-"Flüchtlingsabwehr" fast normales Ereignis, läßt tief blicken hinsichtlich der von den kriegführenden EU-Staaten in Anspruch genommen Werte. Da es sich bei den Opfern zum größten Teil um Somalier und Eritreer handeln soll, die in Libyen arbeiteten und dem Kriegsgeschehen ausgewichen sind, spielen in diesem Fall Bedingungen eine Rolle, die den menschenfeindlichen Umgang mit Flüchtlingen in ihrer kalten sozialtechnokratischen Logik auf besonders deutliche Weise bloßstellt.

Wie bereits die Zustände auf der italienischen Insel Lampedusa zeigen, legen es die kriegführenden Staaten geradezu darauf an, ihre strategischen Ziele in Libyen zu erreichen, ohne es dabei zu einer Lücke im komplexen System des EU-Migrationsregimes kommen zu lassen. Anhand des Jugoslawienkrieg, in dem die NATO-Staaten zwecks Legitimation dieses völkerrechtswidrigen Überfalls einiges dafür taten, den aus dem Kosovo fliehenden Albanern in gut ausgestatteten Lagern eine Bleibe zu verschaffen, ist unschwer zu belegen, daß es weder ein logistisches noch finanzielles Problem sein kann, Kriegsflüchtlinge im Umfeld der EU auch in großer Zahl sicher unterzubringen. Im Fall des Libyenkriegs überschneidet sich jedoch ein ganz Nordafrika betreffendes, von der EU großräumig konzipiertes Grenzregime mit den militärischen Angriffsoperationen gegen ein Land, das ein zentraler Bestandteil präventiver Abschreckung und verwertungstauglicher Selektion afrikanischer MigrantInnen ist.

Seit 2004 kooperieren EU und Libyen bei der "Flüchtlingsabwehr", ohne daß die schwerwiegenden Folgen dieser Politik für die Betroffenen Anlaß dazu gewesen wären, den Schutz der Flüchtlinge vor Mißhandlungen zu verbessern und ihnen zumindest ein korrektes Asylverfahren zu gewähren. Statt dessen etablierte Italien die gängige Praxis, Flüchtlingsboote auf hoher See aufzubringen und nach Libyen zurückzuschicken oder von Lampedusa aus dorthin abzuschieben. Dies führte dazu, daß politisch Verfolgte etwa aus Eritrea bis in ihr Heimatland abgeschoben wurden, wo sie ein lebensgefährliches Schicksal erwartete. All dies erfolgt wenn nicht in direkter Zusammenarbeit, dann doch unter Duldung der EU und ihrer Grenzschutzagentur FRONTEX.

Aus einer Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. Juni 2010 geht unter anderem hervor,

"dass dem UN-Menschenrechtsrat zufolge 9 000 Flüchtlinge - vor allem Palästinenser, Iraker, Sudanesen und Somalier - in Libyen registriert sind, darunter 3 700 Asylbewerber, vor allem aus Eritrea, (...) dass Flüchtlinge stets von einer Abschiebung in ihre Herkunfts- oder Transitländer bedroht sind, ohne dass die Kriterien der Genfer Konvention zur Anwendung kommen, und sie damit von Verfolgung und Tod bedroht sind, (...) dass es Berichten zufolge in Auffanglagern zu Misshandlungen, Folter und Ermordungen kommt und Flüchtlinge im menschenleeren Grenzgebiet zwischen Libyen und anderen afrikanischen Staaten ausgesetzt werden" [1]

Aus dem instruktiven Bericht der Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl "Fatale Allianz: Zur Kooperation der Europäischen Union mit Libyen bei der Flucht- und Migrationsverhinderung" [1] geht auch hervor, daß im Frühjahr 2007 60.000 MigrantInnen und Flüchtlinge in Libyen inhaftiert waren. Zwar ist allgemein - unter anderem aufgrund des Eintretens des ehemaligen deutschen Innenministers Otto Schily für die präventive "Flüchtlingsabwehr" - bekannt, daß in nordafrikanischen Staaten auf Geheiß der Europäischen Union Lager eingerichtet werden, in denen Flüchtlinge noch vor Erreichen der EU-Grenze ihrer Freiheit beraubt werden, doch dringt über das ganze Ausmaße des Geschehens und die fatalen Folgen für die Betroffenen wenig an die breite Öffentlichkeit. Keineswegs sind Frankreich, Britannien und die USA angetreten, um die Flüchtlinge aus diesen Lagern zu befreien, ganz im Gegenteil. Gerade weil Mummar al-Gaddafi erklärt hat, sich nicht mehr an die Abmachungen mit der EU gebunden zu fühlen, geht es jetzt darum, eine neue Regierung zu etablieren, die diese Aufgabe übernimmt.

Die nun ertrunkenen Flüchtlinge scheinen nicht nur ganz allgemein vor den Bedrohungen des Krieges geflüchtet zu sein. In der britischen Tageszeitung The Guardian kommt ein Überlebender aus Kamerun zu Wort, demzufolge die Insassen des gekenterten Bootes vor den Nachstellungen der Rebellen flohen, die gegen die libyschen Regierungstruppen Gaddafis kämpfen: "Sie stehlen unser Eigentum, sie stehlen jeden Tag unser Geld. Sie drohen uns an, uns zu töten, wenn wir Libyen nicht verlassen. Oder sie geben uns Waffen, um gegen Gaddafi zu kämpfen. Wir waren nicht in der Lage, uns diesem Kampf zu stellen" [2]. Aufgrund der bislang nicht verifizierten Behauptung, Gaddafi habe Söldner aus anderen afrikanischen Staaten gedungen, ist es bereits zu Angriffen auf Menschen mit schwarzer Hautfarbe durch die Rebellen gekommen. Zweifel an dieser Behauptung erweckt auch ein Bericht von Robert F. Worth in der New York Times. Darin schreibt er über die sogenannten Söldner, die gegen Anti-Gaddafi-Demonstranten vorgingen:

"Einige waren Afrikaner; andere schienen ausländische Arbeiter zu sein, unter anderem aus Bangla Desh und China. Viele waren überhaupt keine Söldner, sondern schwarzhäutige Männer aus Südlibyen oder hilflose afghanische Migranten auf Arbeitssuche. Einige von denjenigen, mit denen ich in provisorischen Gefängnissen der Rebellen sprach, erklärten, mit Arbeitsversprechen hereingelegt und niemals bezahlt worden zu sein". [3]

Die auch in deutschen Medien immer wieder aufgestellte Behauptung, Gaddafi bediene sich ausländischer Söldner schwarzer Hautfarbe, gibt dem Legitimationsnarrativ der Menschenrechtskrieger eine rassistische Spitze, die die Aufnahme in Libyen lebender Flüchtlinge in der EU um so dringlicher macht. Es gibt inzwischen mehrere Berichte über tätliche Angriffe, denen MigrantInnen im Gebiet der Gaddafi-Gegner ausgesetzt waren, die die angeblich unterstützenswerten Motive der Rebellen in einem anderen Licht erscheinen lassen. [4]

Zu der aus Afrika in die EU erfolgenden Migration tragen das Wohlstandsgefälle zwischen Europa und Afrika und die es profitabel ausbeutenden Handelsstrukturen maßgeblich bei. Die ökonomisch bedingte Verdrängung in afrikanischen Staaten hat viele Gesichter. Sie erfolgt aufgrund der Landnahme, bei der Investoren aus den reichen Ländern in großem Stil fruchtbare Böden erwerben, die der Nahrungsmittelproduktion für die Einheimischen verloren gehen. Sie resultiert aus der Verödung agrarisch bewirtschafteter Gebiete durch die extensive Erschließung und Ausbeutung der Lagerstätten mineralischer oder fossiler Ressourcen. Sie ist Ergebnis einer die Agrarindustrie der EU begünstigenden Exportpraxis, die die afrikanische Landwirtschaft ruiniert. Sie findet statt, wenn Bio-Reservate in Gebieten ausgewiesen werden, in denen Menschen bis dahin ihren Lebenserwerb bestritten.

Klimawandel und Wassermangel machen immer größere Landstriche Afrikas unbewohnbar, so daß es nur zynisch ist, die daraus folgenden Migrationsbewegungen mit dem Begriff des "Wirtschaftsflüchtlings" zu stigmatisieren. Der primäre Raub fand in der Jahrhunderte währenden kolonialistischen Ausbeutung Afrikas statt, und er setzt sich fort in den Bedingungen der kapitalistischen Globalisierung, die zu erhalten unter anderem eine mörderische Flüchtlingsabwehr im Mittelmeerraum betrieben wird. Diese findet nun inmitten eines Krieges statt, dem in Libyen gestrandete Flüchtlinge auf besonders drastische Weise ausgesetzt sind, ohne daß ihnen seitens der Menschenrechte mit Bomben und Raketen durchsetzenden Angreifer in einem größeren Ausmaße geholfen würde, als es unter der Normalbedingung alltäglicher "Flüchtlingsabwehr" auch nicht der Fall ist.

Fußnoten:

[1] http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/q_PUBLIKATIONEN/2010__ab_April_/Broschuere_Libyen.pdf

[2] http://www.guardian.co.uk/world/2011/apr/06/300-migrants-feared-dead-sicily?INTCMP=SRCH

[3] http://www.nytimes.com/2011/04/03/magazine/mag-03Libya-t.html

[4] http://wsws.org/de/2011/mar2011/rebe-m31.shtml

7. April 2011