Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

RAUB/1014: Hirntod vs. Tötungsverbot ... neue Horizonte für die Transplantationsmedizin (SB)



Um die von Union und SPD geplante Neuregelung des Transplantationsgesetzes fruchtbar für die sogenannte Organernte zu machen, reicht es nicht aus, von der erweiterten Zustimmungslösung zu einer Erklärungsregelung überzugehen, bei der jeder Bürger mindestens einmal im Leben gegenüber dem Staat angibt, wie er zu einer möglichen Entnahme seiner Organe steht. Um mehr Menschen dazu zu motivieren, sich einen Spenderausweis ausstellen zu lassen, bedarf es den zuständigen Institutionen zufolge umfassender Aufklärung jener 36 Prozent der Bürger, die sich nicht hinreichend über das Für und Wider eines solchen Schritts informiert fühlen. Zu vermuten ist dennoch, daß das "ganz große Potenzial", das Brigitte Mohn vom Vorstand der Bertelsmann Stiftung [1] mit dieser Maßnahme erschließen will, gegen Null geht, wenn Aufklärung kein Lehen partikulären Interesses ist.

Die von den Fürsprechern dieser Behandlungsform gezogene Verbindung zwischen dem angeblichen Informationsdefizit einer Bevölkerung, deren Angst vor der Einspeisung des eigenen Körpers in die weiße Fabrik vielleicht weniger trügt, als behauptet wird, und der geringen Zahl von 16 Prozent der Bürger, die einen Spenderausweis besitzen, zielt auf eine Werbekampagne, die das größte Hindernis der Organtransplantation wenn nicht weitgehend umschifft, dann zumindest euphemistisch beschönigt. Die Rede ist von der Gleichsetzung des Hirntodes mit dem Tod des ganzen Menschen, die von wissenschaftlicher Seite her längst nicht mehr mit der bislang in Anspruch genommenen Eindeutigkeit bestätigt wird. Das 1968 mit der ersten erfolgreichen Herzverpflanzung eingeführte Todeskriterium hat sich als so widersprüchlich herausgestellt, daß in den USA, wo das Hirntodkonzept in jenem Jahr an der Harvard Medical School definiert wurde, nun über neue ethische und rechtliche Kriterien der Organentnahme debattiert wird.

So hieß die höchste bioethische Institution der USA, der President's Council on Bioethics, im Dezember 2008 mit mehrheitlichem Beschluß eine neue Definition von Leben und Tod gut. Um als lebendiger Mensch zu gelten, seien drei Kriterien zu erfüllen: "(1) Offenheit für die Welt, (2) die Fähigkeit, auf die Welt einzuwirken, und (3) die gefühlte Notwendigkeit, die zum Handeln antreibt, um zu erlangen, was man braucht und als verfügbar erkennt." [2] Arbeitete die Ablösung des Herztods durch den Hirntod bereits mit dem fragwürdigen Konzept, daß der Mensch erst durch in höheren Hirnregionen angesiedelte kognitive Fähigkeiten zur Person und damit zum Menschen werde, so gelangen mit dieser Definition psychologische Thesen in den Stand konstitutiver Entscheidungskriterien, die in ihrer vielseitigen Auslegbarkeit all diejenigen bedrohen, die etwa aufgrund einer geistigen Behinderung oder eines komatösen Status schon heute Gefahr laufen, unter das Messer der Explanteure zu geraten.

Bezeichnenderweise berührt die Debatte um die Novellierung des Transplantationsgesetzes nur selten die so zentrale Frage, wann genau der Mensch vom Leben in den Tod wechselt. Stattdessen wird mit der Information, daß 12.000 Patienten in der Bundesrepublik auf ein Organ warten, aber nur 3000 Organe jährlich gespendet werden, so daß 1000 potentielle Organempfänger pro Jahr aufgrund dieses Mangels sterben müßten, ein moralischer Handlungsimperativ aufgebaut, dem sich zu widersetzen den Anwurf des gefühllosen Egoismus fast zwingend nach sich zieht. Dabei erweist sich die Zahl dieser im individuellen Fall stets tragischen Schicksale durch zahlreiche vermeidbare Todesfälle, die aus medizinischer Unterversorgung, sozialer Benachteiligung, gesundheitsgefährdender Lohnarbeit oder umweltfeindlicher Mißwirtschaft resultieren, als ein Übel unter vielen. Blickt man über die Wohlstandszonen Westeuropas hinaus und sieht, daß viele aus Elends- und Armutsgründen vorzeitig sterbende Menschen nicht einmal einen Bruchteil der medizinischen Leistungen erhalten, die für die Durchführung einer Organtransplantation erforderlich sind, dann wird vollends klar, daß der massiven Propagierung dieser medizinischen Maßnahme auch ganz unheilige Motive persönlichen Karriere- und Überlebensstrebens wie politischer und ökonomischer Macht zugrundeliegen.

Um so ignoranter und gefährlicher ist die Unterschlagung der kritischen Debatte um die angebliche Verträglichkeit des Hirntodkonzepts mit dem Tötungsverbot, als die geforderten und vollzogenen Einsparungen in den Gesundheitshaushalten immer unverhohlener Forderungen nach der Legalisierung eugenischer Formen der erbgesundheitlichen Selektion und aktiven Sterbehilfe laut werden lassen. Darüber nachzudenken, wer noch wie lange und zu welchem Preis in den Genuß aller vorhandenen Therapieformen gelangt, ist längst kein Tabu einer an den hippokratischen Eid gebundenen Medizin mehr, sondern wird in politischen Parteien, in den Think Tanks der Wirtschaft und in ärztlichen Standesorganisationen offen diskutiert. In den USA, wo die Bioethiker an vorderster Front der innovativen Liberalisierung medizinischer Standesregeln stehen, sterben Menschen schlicht deshalb, weil ihnen nicht einmal im akuten Notfall angemessene ärztliche Hilfe zuteil wird. Eins und eins zusammenzuzählen, wenn auch in Deutschland die Gültigkeit des ethischen Grundsatzes, an lebenden Menschen keine fremdnützigen medizinischen Maßnahmen vorzunehmen, in Frage gestellt wird, sollte daher nicht schwer fallen.

Ein Versuch, die Debatte zu öffnen, wurde in der von der ARD am Montag ausgestrahlten Reportage "Konfliktfall Organspende" [3] unternommen. Die Autoren Jule Sommer und Udo Kilimann umschifften das Thema des Hirntods nicht, sondern machten dem Publikum klar, daß die Organspende bei Unfallopfern, deren künstlich beatmete, warm durchblutete Körper ganz und gar lebendig wirken, die aber dennoch für tot erklärt werden, deren Angehörige regelrecht traumatisieren kann. Wie also mit dem Dilemma umgehen, daß die Eltern eines verunglückten Kindes nicht nur mit diesem Schicksalsschlag umgehen, sondern in dieser höchst belasteten Situation auch noch über eine mögliche Organentnahme befinden müssen?

Auch hier lautet die Empfehlung Aufklärung, allerdings verläuft diese in eine höchst prekäre Richtung. So sollen die Betroffenen nicht mit der ihrer Empfindung diametral widersprechenden Behauptung, ihr Angehöriger oder Freund sei verstorben, während die Aufrechterhaltung seiner Vitalfunktionen lediglich zur Versorgung seiner Organe mit Sauerstoff diente, in die Irre geführt werden. Auch begnügt man sich nicht mit der zirkelschlüssigen Aussage eines Arztes, der den Hirntod eines Patienten feststellt, um zu konstatieren: "Leben im klassischen Sinne ist es ja nicht mehr, weil wir den Tod jetzt festgestellt haben." Berufsständisches Interesse an der Kanonisierung der Hirntoddefinition beweist auch ein Herzchirurg, der den Angehörigen von Unfallopfern empfiehlt, "einfach mal zu akzeptieren, daß der Tod jetzt anders abläuft, als wir uns das so herkömmlich vorstellen."

In der Reportage der ARD wird die bloße Apologie des Hirntods als unhaltbar dargestellt, allerdings zugunsten der produktiven Weiterentwicklung der Transplantationsmedizin. Zwar wird ein halber Schritt zurück zur Fragwürdigkeit des Hirntods unternommen, doch dann wird Anlauf für einen Sprung über die Grenze des Tötungsverbots hinaus genommen. Dr. Martin Stahnke, der sich als Befürworter der Organtransplantation vorstellt, empfiehlt, den Betroffenen von vornherein reinen Wein einzuschenken, um nicht auf die Organentnahme verzichten zu müssen. Unter Eingeständnis dessen, daß in verschiedenen Ländern durchaus unterschiedliche Hirntoddefinitionen gelten, was deren interessengebundenen Charakter unterstreicht, konstatiert er:

"Man kann dieses Kriterium nehmen zum Beispiel, um festzulegen, daß man Organe entnehmen darf - sterbenden Menschen. (...) Ich bin auch fest davon überzeugt, daß das ein Prozeß ohne Umkehr ist. Also kein Mensch möchte so leben mit einem defekten oder vollkommen verletzten Gehirn. Insofern kann man das als Kriterium nehmen, um zu sagen, das ist ein Punkt, wo wir wissen, ohne Wiederkehr, man kann also einem Sterbenden Organe entnehmen. Das muß man bloß wissen." [3]

Hier geht es um nichts geringeres als die Relativierung des Tötungsverbotes zum Schutz einer Therapieform, die in marktwirtschaftlicher Reinkultur längst kannibalistischen Charakter angenommen hat, wie Berichte über den internationalen Organhandel und den Organraub bei eigens zu diesem Zweck ermordeter Menschen belegen. Ist den Autoren der Sendung zugutezuhalten, daß sie den überfälligen Schritt zur Anerkennung dessen, daß der Hirntod nicht der Tod des ganzen Menschen ist, vollziehen, so bleiben sie die notwendige Kritik des juridisch wie moralphilosophisch schwerwiegenden Schrittes, die fremdnützige Organentnahme an noch lebenden Menschen gutzuheißen, schuldig. Auch trifft ihre Aussage, daß die Kritiker des Hirntodkonzeptes die Organspende nicht grundsätzlich ablehnten, nicht zu, gibt es doch einige Experten, die es für untragbar halten, daß die Fortsetzung der Transplantation lebenswichtiger Organe nur zum Preis einer Relativierung des unbedingten Lebensrechts zu haben ist.

Die die ARD-Reportage beschließende Freude des herzkranken Mannes über sein neues Leben, das er einem fremden Organ verdankt, mag als Mandat für die Fortsetzung der Transplantationsmedizin verstanden werden. Der Zugriff medizinaladministrativer Instanzen auf Gewißheiten des menschlichen Lebens, die jeder staatlichen Ordnung vorausgehen, ist als Angriff einer abstrakten Verfügungsgewalt auf konkrete Belange menschlicher Autonomie dennoch nicht mißzuverstehen. Wo das Lebenrecht des einzelnen von seinem sozioökonomischen Status, seiner Herkunft und Nationalität abhängig gemacht wird, gilt es, diese Gewißheiten mit aller Entschiedenheit zu verteidigen.

Fußnoten:

[1] http://www.focus.de/gesundheit/gesundheits-news/organspende-neue-rechtslage-koennte-zu-mehr-spenden-motivieren_aid_692136.html

[2] http://www.bundestag.de/dasparlament/2011/20-21/Beilage/001.html
Lesenswerte Analyse des aktuellen Standes der Hirntoddebatte von Sabine Müller

[3] http://mediathek.daserste.de/sendung-verpasst/9077832_konfliktfall-organspende/9077844_konfliktfall-organspende

Zum Thema siehe auch
Schattenblick -> INFOPOOL -> BILDUNG UND KULTUR -> REPORT
BERICHT/027: "Die Untoten" - Transplantationsmystik - Wenigstens meine Organe sollen überleben... (SB)
BERICHT/021: "Die Untoten" - Menschliches Gemüse - Organspender philosophisch totgesagt (SB)
BERICHT/013: "Die Untoten" - Hirntodlüge aus Pflegesicht (SB)
BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)
INTERVIEW/004: "Die Untoten" - Roberto Rotondo, Diplom-Psychologe und ehemaliger Krankenpfleger (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)


20. Dezember 2011