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RAUB/1018: Im Europa der Staatenkonkurrenz florieren Verelendung und Sozialchauvinismus (SB)



Um zu verstehen, warum sich auch die meisten der verarmten Bundesbürger an das ungeschriebene Gebot halten, laut dem Ruhe erste Bürgerpflicht ist, hilft ein Blick nach Griechenland weiter. In diesem im Schulunterricht als Wiege der europäischen Kultur gepriesenen Land herrscht so bittere Armut, daß schon die Aussicht darauf, hierzulande ähnlich geartete Elendsverhältnisse erleben zu müssen, dämpfend auf die Entfachung sozialen Widerstands wirkt. Und das nicht nur aufgrund der Angst, das wenige, was einem Hartz IV-Opfer geblieben ist, auch noch zu verlieren, sondern aus der selbstgerechten Gewißheit heraus, daß die griechische Bevölkerung ein selbstverschuldetes Schicksal erleidet. Das massenmediale Bombardement, mit dem das rassistische Feindbild aus südländischem Laissez-Faire geborener "Pleitegriechen" kreiert wurde, und die in der neoliberalen Intelligenzpresse kolportierte, gleichzeitig als warnendes Beispiel für die eigenen Bürger gedachte Behauptung, dort habe man über seine Verhältnisse gelebt, blieben nicht ohne Wirkung.

Inzwischen lebt ein Viertel der elf Millionen Griechen unter der Armutsgrenze, die Zahl der Selbstmorde steigt ebenso drastisch an wie die der bei kirchlichen Organisationen anonym ausgesetzten Kinder, essentielle medizinische Leistungen sind für viele ebenso unerschwinglich geworden wie das tägliche Sattwerden. Die Obdachlosigkeit nimmt so rasant zu wie die Erwerbslosigkeit, die nach der auf ein Jahr befristeten Zahlung von Arbeitslosengeld in die völlige, jeglichen Einkommens bare Armut führt. Doch auch wer noch einen Job hat, kann bei Lebensmittelpreisen auf westeuropäischem Niveau und Löhnen, die häufig weniger als halb so hoch sind wie ein Durchschnittseinkommen in der Bundesrepublik, in die Lage geraten, sich zwischen einem vollen Bauch oder der dringenden Begleichung offener Rechnungen entscheiden zu müssen. Der Verzicht auf jegliche Vergünstigung wie Urlaubsreisen oder Unterhaltungskonsum ist da ebenso selbstverständlich wie das Frieren bei winterlichen Temperaturen.

Doch auch die griechischen Bürger stehen einer Gruppe in ihrem Land lebender Menschen gegenüber, denen es weit elender ergeht als ihnen. Über eine Million Flüchtlinge und Migranten, die aufgrund des von Deutschland maßgeblich durchgesetzten Dublin-II-Abkommens nicht über Griechenland hinausgelangen, sind weitgehend ohne Versorgung oder unter menschenfeindlichen Bedingungen inhaftiert. Eine Delegation des Anti-Folter-Komitees des Europarats hat bei der Inspektion griechischer Flüchtlingslager und Abschiebegefängnisse festgestellt, daß dort Menschen teilweise monatelang unter fürchterlichsten Bedingungen leben müssen. Fallbeschreibungen berichten von 146 Männern auf 110 Quadratmetern mit einer Dusche und einer Toilette, von hundert Flüchtlingen, die in einem 35 Quadratmeter großen, völlig verdreckten Raum leben, die nur die Kleider haben, die sie bei ihrer Verhaftung trugen, und denen es an frischer Luft und Essen mangelt. Kinder ab dem Alter von zwölf Jahren werden zu Dutzenden in schmutzigen Räumen zusammengepfercht, die sie nur selten verlassen können, und bleiben dort ohne Kontakt zu Erwachsenen sich selbst überlassen [1].

Während Griechenland zu einer sozialen Hölle verkommt, wird unter den Krisenmanagern der Troika aus EU, EZB und IWF weiter darüber beraten, wie man seine Bevölkerung noch zu verschärftem Schuldendienst nötigen und die Reste rentabler Anlagemöglichkeiten internationalen Kapitalinvestoren übereignen kann. Aus diesem ökonomischen Gewaltverhältnis können selbst einkommensarme Bundesbürger den Schluß ziehen, zu den mittelbar Begünstigten eines Krisenszenarios zu gehören, das wider dem erklärten Ziel der europäischen Einigung mit immer härteren Bandagen auf der Ebene nationalstaatlicher Konkurrenz ausgetragen wird. Klassensolidarität auch mit den Elendesten der Elenden, von Krieg und Not getriebenen Migranten, zu üben verkommt da bestenfalls zu einem bloßen Anspruch und schlimmstenfalls zu einer Kultur sozialdarwinistischer Feindseligkeit. Der Zuspruch, den sozialrassistische Demagogen hierzulande auch von ökonomisch benachteiligten Menschen erhalten, nährt sich wesentlich von dieser verbindliche Strukturen solidarischer Unterstützung zertrümmernden Überlebenskonkurrenz.

Der Bevölkerung klar zu machen, daß der Verlust des anderen immer auch der eigene ist, weil die Zerstörung des solidarischen Miteinanders nicht nur zu atomisierter Isolation führt, sondern auch die Befreiung von Fremdbestimmung und Unterdrückung unmöglich macht, wäre Aufgabe einer Linken, deren Horizont nicht auf die Befriedung der eigenen Gesellschaft beschränkt ist. Was die Apologeten der kapitalistischen Globalisierung als naturhaftes Zwangsverhältnis darstellen, um den Primat der Kapitalverwertung in jedem Winkel der Erde durchzusetzen, bedarf des Gegenentwurfs internationalistischer Solidarität, um einer sozialen und kulturellen Verelendung Einhalt zu gebieten, die die Hoffnung auf bessere Zeiten auch in den Zentren kapitalistischer Prosperität absehbar widerlegen wird.

Fußnote:

[1] http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/international/verheerende_zustaende_in_griechenland_1.14257123.html