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RAUB/1034: Tiefschlag gegen Tropenwald - Das brasilianische Wunder hat seinen Preis (SB)




Brasilien sei ein Land voller Widersprüche, heißt es in Features, Feuilletons und Folklorebilderstrecken. Wenngleich damit am allerwenigsten eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der dort herrschenden gesellschaftlichen Widerspruchslage, geschweige denn die unverzichtbare Parteinahme in derselben gemeint ist, geht der bewundernde Blick auf Tropengrün und braune Haut doch weit über eine bloß touristische Angebotsprüfung hinaus. In einer Gemengelage aus Furcht, Neid und Bewunderung bestaunt man das brasilianische Modell als phänomenale Rezeptur zur Deckelung aller Unvereinbarkeiten, Zerreißproben und Konflikte. Wenngleich man westlicherseits den rasanten Aufstieg des südamerikanischen Giganten im Verbund der BRICS-Staaten, denen Prognostiker die künftige Führerschaft nach dem Fall des US-Imperiums zutrauen, mit Argwohn verfolgt und an der Entschlüsselung seiner Krisenresistenz scheitert, erwärmt man sich doch vorbehaltlos für die Doktrin, im "Lulaismus" den idealen und unabweislichen Gegenentwurf zu allen aufrührerischen Tendenzen Lateinamerikas präsentieren und hofieren zu können. Hugo Chávez, Evo Morales, Rafael Correa, die Brüder Castro und Konsorten seien Schnee von gestern, wie überhaupt die Gesellschaftsveränderung von unten ein Auslaufmodell sei, nach dem kein Hahn mehr krähe.

Luiz Inácio Lula da Silva, den man allenthalben als einen der einflußreichsten Menschen zu Beginn des neuen Jahrtausends preist, hat gängiger Version zufolge das Unmögliche möglich gemacht. Man sagt ihm nach, beispielloses Wirtschaftswachstum und Armutsbekämpfung historischen Ausmaßes unter einen Hut gebracht zu haben, weshalb er zum Ende seiner zweiten Amtszeit im Kontext frisch nachgewiesener riesiger Ölvorkommen vor der Küste sich und sein Land glücklich schätzte, von Gott gesegnet zu sein. Sein Aufstieg vom politisch Verfolgten der Juntazeit und Arbeiterführer zum Präsidenten und international anerkannten Staatsmann scheint die Aufhebung der Klassengegensätze zu personifizieren und ein innovatives ideologisches Vorbild gesellschaftlicher Versöhnung zum Nutzen aller zu prägen. Da in den Vereinigten Staaten und Westeuropa die Larve wohlstandsgedeckter Konsumentenseligkeit und sozialstaatlich saturierten Bürgersinns abgefallen ist und die Fratze elendsproduzierender Mangelökonomie unverhohlen zutage tritt, kann man achselzuckend auf Lulas Erfolgsmodell verweisen, ohne sich im geringsten aus dem Fenster zu lehnen: Sozialer Kapitalismus geht eben doch und sogar ausgesprochen prächtig, wenn man die Sache nur richtig anfaßt.

Als es Lula im Gegensatz zu diversen Amtskollegen in der Nachbarschaft bei den in der Verfassung vorgesehenen Amtszeiten bewenden ließ, obwohl er problemlos für eine dritte gewählt worden wäre, hätte er sie denn per Verfassungsänderung herbeigeführt, rechnete man ihm dies um so mehr als grunddemokratische Gesinnung hoch an. Möglicherweise war gerade ihm als allseits verehrtem Charismatiker aber auch klarer als den meisten bewußt, daß Reichtum nur auf der Grundlage von Armut existiert, Profite zu Lasten entufernder Verluste generiert werden. Sein brasilianisches Wunder hat folglich eine begrenzte Halbwertzeit, so daß um seines ewigen Nachruhms willen weitere vier Jahre im Präsidentenpalast allzu leicht ein Verlustgeschäft geworden wären, falls die Regression früher als ohnehin befürchtet einträte und ihm den Nimbus raubte.

Ausbaden muß es seither seine Parteikollegin und von ihm ausgewählte Nachfolgerin Dilma Rousseff, die nicht mehr die schwarzen und weißen Rosse mit sicherer Hand im selben Gespann lenkt, sondern fast schon zwischen Szylla und Charybdis navigierend zermalmt zu werden droht. Der natürliche Reichtum Brasiliens in Gestalt rasanter Vernichtung desselben ist das wichtigste ökonomische Faustpfand des Landes und zugleich sein prekärstes. Als einer der wichtigsten Produzenten von Grundnahrungsmitteln und weltgrößter Exporteur von Soja und Rindfleisch gilt die südamerikanische Nation als Brotkorb der westlichen Hemisphäre, was ihr angesicht fehlender Sourcen, die Weltbevölkerung zu ernähren, enorme Bedeutung zuweist und florierende Geschäfte beschert. Das ändert jedoch nichts daran, daß Produzenten von Rohstoffen allenfalls befristet ein starkes, doch generell eher ein schwaches Glied in der Verwertungskette sind. Dieses Mankos bewußt, treibt die brasilianische Führung die Diversifizierung der Ökonomie voran, doch bleibt es angesichts des kolonialen Erbes ein Unterfangen gigantischen Ausmaßes, den Rückstand zu den hochentwickelten Industriestaaten des Nordens zu verringern.

Unterdessen frißt sich die unablässige Ausweitung landwirtschaftlich genutzter Flächen wie ein unersättliches Raubtier in bislang unerschlossene oder kaum bewirtschaftete Regionen wie insbesondere den tropischen Regenwald des Amazonasgebiets. Dieses ist als grüne Lunge des globalen Klimas, Reservoir ungeheurer Süßwasservorkommen, Quelle begehrter Rohstoffe etwa zur Herstellung lebensrettender Medikamente, wenn die Antibiotika versagen, und eben auch potentielle Anbaufläche so bedeutsam, daß es im Fokus weltweiter Aufmerksamkeit steht. Beispielsweise behalten sich die Vereinigten Staaten in ihrer strategischen Planung für die westliche Hemisphäre ausdrücklich vor, militärisch im Amazonasgebiet zu intervenieren, sollten sie dort ihre nationale Sicherheit bedroht sehen.

Natürlich haben auch Umweltschützer das Amazonasgebiet ganz besonders im Blick, was die brasilianische Präsidentschaft in eine extreme Zwickmühle bringt. Während sie sich auf der einen Seite als Primus inter Pares der Klimadebatte positioniert, nehmen auf der anderen die illegalen Großrodungen überhand. Galt Brasilien seit der ersten Rio-Tagung vor zwanzig Jahren als Vorzeigekind einer nachhaltigen Klimapolitik, so drohen nun Änderungen des alten Waldgesetzes grundlegende Rahmenbedingungen für die dritte Verhandlungsrunde zunichte zu machen. Mit der UNO-Klimakonferenz "Rio+20" vor Augen, zu der vom 20. bis 22. Juni Staats- und Regierungschefs aus aller Welt in Brasilien erwartet werden, hat Dilma Rousseff im letzten Augenblick die Reißleine gezogen und zumindest Teile des umstrittenen neuen Waldgesetzes mit ihrem Veto blockiert. Allein die Debatte um die Änderungen des ehemals progressivsten und wegweisendsten Umweltgesetzes zum Waldschutz hatte im ersten Quartal 2012 zu einer Verdreifachung der illegalen Abholzung geführt, da Großgrundbesitzer auf eine Amnestie spekulieren. [1]

Das brasilianische Waldgesetz (Código Florestal) aus dem Jahr 1934 schützte ein Viertel der ursprünglichen Vegetation jedes Privatgrundstücks. Daraus wurde 1965 eines der fortschrittlichsten Waldschutzgesetze der Welt. So mußten im Amazonasgebiet 50 Prozent, im Rest des Landes 20 Prozent eines Privatgrundstücks bewaldet bleiben, worauf dieser Anteil 1996 noch einmal erhöht wurde. Seit Ende der 1990er Jahre wurden jedoch mehrere parlamentarische Initiativen gestartet, um den Prozentsatz der geschützten Waldanteile wieder zu verringern. [2]

Würde das Gesetz in der am 25. April vom Parlament mit knapper Mehrheit beschlossenen Form novelliert, stünden insgesamt 76,5 Millionen Hektar Wald zur Abholzung frei. Zudem sieht die Novelle vor, illegale Rodungen vor Juli 2008 zu amnestieren, vorgesehene Grünflächen in der städtischen Erweiterung zu streichen und diverse Sanktionen gegen Umweltsünder der Wirtschaft aufzuheben. Im einzelnen erlaubt das neue Gesetz Waldbesitzern, künftig statt 80 Prozent nur noch 50 Prozent des Waldes auf ihrem Land zu erhalten. Auch werden bestehende Schutzzonen an Abhängen, Hügelketten und Flußläufen durch die Neuregelung ausgedünnt. So soll ein Streifen von bis zu 100 Metern entlang der Flüsse deutlich schmaler werden, was die Wasserqualität verschlechtert, die Erosion fördert und die Fischbestände dezimiert, die eine wichtige Lebensgrundlage für die dort lebenden indianischen Gemeinschaften sind, deren Überleben gefährdet wäre. [3]

Nachdem das Parlament die Lockerung des strengen Waldgesetzes beschlossen hatte, appellierten Umweltschützer verschiedener Organisationen wie WWF, Greenpeace und Avaaz an die Präsidentin, dem Gesetzentwurf ihre Unterschrift zu verweigern. Während in Brasilien selbst rund 80 Prozent der Bevölkerung die Novelle ablehnen, haben weltweit Menschen eine Petition der Umweltorganisationen unterzeichnet, die ihren Aufruf insbesondere über die sozialen Medien verbreiteten. [4] Am Donnerstag wurde Rousseff eine Petition mit mehr als 1,9 Millionen Unterschriften übergeben, die ein absolutes Verbot der Abholzung fordert. Unmittelbar vor Ablauf der gesetzlich vorgeschriebene Frist von 30 Tagen nach der Abstimmung im Parlament machte Dilma Rousseff schließlich von ihrem Einspruchsrecht Gebrauch.

Seit ihrem Amtsantritt im Januar 2011 hat sie zwei Niederlagen im Kongreß erlitten, beide zum Waldgesetz. Verantwortlich dafür ist eine parteiübergreifende Agrarlobby, in der sich die Interessen der exportwichtigen Landwirtschaft bündeln. Hätte sich die Präsidentin nach tagelangen Beratungen mit ihren Ministern für ein komplettes Veto entschieden, wäre dieses anschließend mit hoher Wahrscheinlichkeit in den beiden Kongreßkammern mit der dafür erforderlichen einfachen Mehrheit überstimmt worden. Mit ihrem Teilveto hat Rousseff Zeit gewonnen, um "Rio+20" hinter sich zu bringen. Wie es danach weitergeht, ist ungewiß. Die Regierung wolle keine Amnestie für illegale Abholzungen in der Vergangenheit gewähren und verhindern, daß Schutzzonen verkleinert werden, erklärte Umweltministerin Izabella Teixeira. [5]

Indessen galt Dilma Rousseff schon lange vor ihrem Amtsantritt als Technokratin, die auf extrem zerstörerische Großprojekte wie riesige Staudämme im Amazonasgebiet setzt. Zwar hat sie im Wahlkampf 2010 versprochen, kein Gesetz zu billigen, das die Abholzung vorantreibt, doch in ihrer Amtszeit bislang Umweltbelange dem Wachstum untergeordnet. Die "Amnestie für Holzfäller", als die Abgeordnete und Umweltschützer das Gesetz bezeichnet haben, und mithin der "Tiefschlag gegen das größte Tropenwaldgebiet der Erde", wie die Umweltschutzorganisation WWF die Novelle kritisiert, sind daher keineswegs vom Tisch.

Fußnoten:

[1] http://schattenblick.org/infopool/parl/b-gruen/pgum1276.html

[2] http://naturschutz.ch/news/zerstorung-von-millionen-hektar-regenwald-befurchtet/42746

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/b-volk/bbeur545.html

[4] http://www.scharf-links.de/42.0.html?&tx_ttnews%5Btt_news%5D=24741&tx_ttnews%5BbackPid%5D=9&cHash=3f042b3797

[5] http://www.domradio.de/aktuell/81996/veto-auf-alles-dilma.html

26. Mai 2012