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RAUB/1059: Schwarz-roter Gleichschritt in die Agenda 2020 (SB)




In wenigen Tagen jährt sich die Zäsur zum zehnten Mal, mit der die deutschen Eliten ihre Renditen und die Vormachtstellung in Europa angesichts wachsender Krisen der kapitalistischen Verwertung zu sichern trachteten. Am 14. März 2003 kündigte Bundeskanzler Gerhard Schröder in einer Regierungserklärung die Agenda 2010 an. Das tiefgreifendste und umstrittenste Reformwerk seit dem Zweiten Weltkrieg verschärfte die Ausbeutung der lohnarbeitenden Bevölkerung, kürzte massiv die Sozialleistungen und perfektionierte die staatlichen Kontrollinstrumente. Einschnitte bei der Rente, der Arbeitslosenunterstützung und im Gesundheitssystem waren die augenfälligsten sozialen Grausamkeiten in einem umfassenden Bündel von Maßnahmen zur forcierten Umverteilung von unten nach oben in Zeiten schwindender Fleischtöpfe für alle.

Die Agenda 2010 kam nicht aus heiterem Himmel. Vorarbeiten waren bereits im Schröder-Blair-Papier von 1999 geleistet worden, und als Grundlage der Reform diente der "Wirtschaftspolitische Forderungskatalog für die ersten hundert Tage der Regierung", mit der die Bertelsmann-Stiftung als führende Denkfabrik bundesdeutscher Kapitalmacht die Maßgaben neoliberaler Doktrin festgezurrt und innovativ fortgeschrieben hatte. Die Regierungskoalition aus SPD und Grünen ließ die Agenda auf Sonderparteitagen im Juni 2003 mit überwältigender Mehrheit absegnen und drängte damit innerparteiliche Kritiker ins Abseits. Große Teile des Konzepts wurden auch von den Oppositionsparteien unterstützt und von CDU/CSU aktiv mitgestaltet. In ihrer Regierungserklärung vom 30. November 2005 dankte Schröders Amtsnachfolgerin Angela Merkel ihrem Vorgänger ausdrücklich dafür, mit der Agenda 2010 mutig und entschlossen eine Tür aufgestoßen zu haben, um die Sozialsysteme an die neue Zeit anzupassen.

Angesichts wachsender Kritik an den verheerenden Armutsfolgen für wachsende Teile der deutschen Bevölkerung hatten sich die Sozialdemokraten in jüngerer Zeit opportunistisch von ihrem eigenen Machwerk distanziert. Daß diese vorgetäuschte Einsicht lediglich ein taktisches Manöver im Zuge erhofften Stimmenfangs war, zeigt sich derzeit in aller Deutlichkeit. Kurz vor dem Jahrestag der Agenda 2010 preisen führende SPD-Politiker das Reformwerk als großen Durchbruch, dem weitere Schritte folgen müßten. Die Agenda sei sehr erfolgreich gewesen, doch werde zehn Jahre nach ihrer Ankündigung noch immer viel Falsches darüber erzählt, deutet Parteichef Sigmar Gabriel die Einwände zu einem Problem unzureichender Vermittlung um. Kanzlerkandidat Peer Steinbrück kritisiert, seine Partei hätte viel selbstbewußter und stolzer damit umgehen müssen: "Wir sind Deppen, dass wir die Agenda immer mit Hartz IV gleichgesetzt haben." Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier rühmt das Reformprojekt als "Ausbruch aus der Abwärtsspirale". Hätte Schröder damals so mutlos regiert wie Angela Merkel heute, stünde man in einer Reihe mit Italien, Frankreich und Spanien vor deutlich größeren Problemen inmitten der Euro-Krise. [1]

Damit nicht genug, legt Altbundeskanzler Schröder mit der Forderung nach, ein neues, umfassendes Reformpaket auf den Weg zu bringen. Deutschland könne seinen Vorsprung gegenüber aufstrebenden Wirtschaftsmächten wie Brasilien und China nur verteidigen, wenn man hart an der eigenen Wettbewerbsfähigkeit arbeite. Die sozialen Systeme könnten in einer älter werdenden Gesellschaft nicht statisch gehalten werden, weshalb man "immer wieder Mut zur Veränderung" brauche.

Wie schon vor zehn Jahren marschieren die Sozialdemokraten im Gleichschritt mit der CDU. Arbeitsministerin von der Leyen bezeichnet die damaligen Reformen als im Grundsatz "mutig und richtig". Allerdings habe man deutlich nachgearbeitet und die Agenda 2010 sozialer gemacht, vergißt die Christdemokratin im Wahljahr nicht, sich die angebliche Sozialverträglichkeit ans eigene Revers zu heften. Eine Agenda 2020 müsse im Zeichen von Chancengerechtigkeit und Fachkräftesicherung stehen, denkt sie wie Schröder längst über die nächsten Hammerschläge nach.

Das findet den ungeteilten Beifall des neuen Vorsitzenden der fünf "Wirtschaftsweisen", Christoph Schmidt, der eindringlich davor warnt, die Agenda 2010 zurückzudrehen. Das Bewußtsein, daß es nach wie vor großen Reformbedarf gebe, scheine in der Politik mehr und mehr abhanden zu kommen. So belege die Diskussion über Mindestlöhne, daß "strengere Regulierungen eher auf der politischen Agenda stehen als Liberalisierungen". Schmidt mahnt zudem eine Lockerung des Kündigungsschutzes an und erklärt, daß bei der Rente mit 67 das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht sei. "Die Rente mit 70 ist unabdingbar", unterstreicht auch der Direktor des Instituts der Zukunft der Arbeit (IZA), Klaus Zimmermann. Deutschland dürfe sich nicht auf seinem wirtschaftlichen Erfolg ausruhen. Das sei "brandgefährlich und wird uns in spätestens fünf Jahren vor die Füße fallen, wenn das demographische Chaos ausbricht". [2]

Einwände im Vorfeld des Jahrestags vernimmt man aus Gewerkschaftskreisen und der Linkspartei. So fordert deren Vorsitzende Katja Kipping, "dem Hartz-IV-System die schlimmsten Giftzähne zu ziehen". Dafür müßten der Regelsatz angehoben und die Sanktionen abgeschafft werden. Deutlicher wird da schon Fraktionsvize Sahra Wagenknecht: "Die Agenda 2010 hat viele Menschen in die Armut gestürzt und die Ausbeutung von Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern durch Lohndumping und Leiharbeit ermöglicht. Das Jobwunder ist ein Hungerlohnwunder!" [3]

Wie es weitergehen soll, deutet die Bundesarbeitsministerin mit folgendem Rätsel an: "Wir werden es hinkriegen müssen, dass sowohl Männer als auch Frauen in Vollzeit arbeiten können und gleichzeitig mehr Zeit für die Familie bekommen." Nur so lasse sich die Frage beantworten, wie die viele Arbeit, die es in Deutschland gebe, geleistet werden kann. Menschen, die sich anstrengten, müsse man auch Chancen eröffnen, voranzukommen. [4]

Anstrengung lautet das Zauberwort, das wie Alexanders Schwert den gordischen Knoten die unentwirrbaren Stränge der ökonomischen Systemkrise mit einem Streich durchtrennen soll. Anstrengung jener, die man dazu zwingen und mit dem hohlen Versprechen auf Fortkommen ködern kann. So steht zu befürchten, daß der Furor teutonicus die heimischen Lohnstückkosten noch tiefer in den Keller drückt, um mit einer unverminderten Exportoffensive den Rest Europas das Fürchten zu lehren. Sollte es im Herbst mit Rot-Grün oder Schwarz-Gelb nicht klappen, droht eine große Koalition, die unter dem Banner der Agenda 2020 längst den Gleichschritt übt.

Fußnoten:

[1] http://www.stern.de/politik/deutschland/ueberraschende-wende-auch-spd-stellt-sich-wieder-hinter-agenda-2010-1981993.html

[2] http://www.tagesschau.de/inland/agenda-debatte102.html

[3] http://www.augsburger-allgemeine.de/politik/Schroeder-und-SPD-Spitze-verteidigen-Agenda-2010-id24387771.html

[4] http://de.reuters.com/article/topNews/idDEBEE92900A20130310

10. März 2013