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RAUB/1102: Wallonisches Wunder wird weichgeklopft (SB)



Viel haben wir dieser Tage über die Wallonie gelernt und im Nebenlauf einiges über den recht eigenwilligen Umgang mit demokratischen Verfahrensweisen seitens der EU-Administration erfahren. Wie so oft verdanken wir dem dienstältesten Europaparlamentarier Elmar Brok die überraschendste Aufklärung, was von den Belgiern im allgemeinen und der Provinz Wallonien samt deren Ministerpräsidenten Paul Magnette im besonderen zu halten ist, die das Freihandelsabkommen CETA bremsen. "Wenn man sich die innerstaatlichen Entscheidungsstrukturen Belgiens anschaut, könnte man auf die Idee kommen, dass Belgien ein ,Failed State' ist", so der christdemokratische EU-Politiker. "Das ist der Egotrip eines Mannes. Der wallonische Ministerpräsident hält Europa auf. Ich halte das für unverantwortlich." [1] "Bestimmte Länder sind nicht europafähig, weil ihre Strukturen oder ihre politischen Entscheidungen wie Referenden den europäischen Prozess aufhalten, wie wir bei Belgien oder Ungarn sehen", wettert der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses. "Aber auch das Bundesverfassungsgericht gibt Deutschland ja auf, jederzeit aus einem völkerrechtlichen Vertrag auszusteigen. Wenn das jedes Land macht, ist die Union am Ende" [2], bekommen auch die Karlsruher Robenträger ihr Fett weg.

Was schlägt Brok vor? Daß man mit Belgien wie mit anderen für gescheitert erklärten Staaten verfährt und mittels einer militärischen Intervention einen Regimewechsel in Brüssel herbeiführt, das nationalstaatliche Gefüge zerschlägt und einen jahrelangen Bürgerkrieg auslöst, dürfte in diesem Fall nicht gemeint sein. Das "nicht europafähige" Belgien aus der EU zu werfen, scheint ebenfalls nicht Broks Option zu sein. Er will die Europäische Union zusammenhalten, die Deutschland so dringend braucht, um seine wirtschaftliche, politische und zunehmend auch militärische Führungsposition auszubauen. Der "europäische Prozeß" sei die Ultima ratio, die nichts und niemand aufhalten dürfe, seien es die Belgier oder Ungarn, Referenden oder Gerichte. Was die Spitzenfunktionäre der EU an völkerrechtlichen Verträgen aushandeln, geht niemand etwas an, so die Logik einer Geheimdiplomatie auf höchster Ebene, der die Niederungen der Parlamente nachträglich ihren formalen Segen zu geben haben, wenn längst alles unabänderlich festgezurrt ist.

Eine andere erstaunliche Sichtweise steuert Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaite bei, wenn sie unter beträchtlichem Beifall beklagt, die EU sei vom kleinen Wallonien als Geisel genommen worden. Kreativer kann man den Umstand kaum auf den Kopf stellen, daß den europäischen Bevölkerungen ein Freihandelsabkommen aufgezwungen werden soll, wogegen sich zahllose Menschen wehren, darunter auch die Wallonen, die von ihrer rechtlich verbürgten Schlüsselstellung Gebrauch machen. Das belgische Verfassungsrecht sieht vor, daß die Zentralregierung ohne Vollmacht der Regionen und Sprachengemeinschaften CETA nicht unterschreiben darf. Das schmeckt dem Ministerpräsidenten des Landes, Charles Michel, überhaupt nicht, der das Gespenst einer "Radikalisierung" bei den Wallonen auftauchen sieht. [3] Die flämische liberale Parteivorsitzende Gwendolyn Rutten fordert gar, sich über das "Nein" der Wallonen hinwegzusetzen und den CETA-Vertrag zu unterzeichnen. Sie sei dafür sogar bereit, notfalls eine "institutionelle Krise" zu riskieren, einen Streit über die gemeinsame Zukunft der rivalisierenden Flamen und Wallonen im belgischen Bundesstaat. [4]

Wo mit langersehnten Handelsvorteilen und leidigen Demokratiedebatten jongliert wird, darf EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nicht fehlen, der folgende eigenwillige Pointe zum besten gibt: "Ich muss sagen, ich bin erstaunt, darüber, dass wir mit Vietnam ein Handelsabkommen schließen können. Es ist ja weltweit bekannt, was für ein demokratisches Land Vietnam ist, da hört man aber nichts. Bei Kanada, dieser regelrechten Diktatur, sind alle über Menschenrechte besorgt. Das stellt die Dinge auf den Kopf." Will uns Juncker allen Ernstes damit sagen, daß in Vietnam eine Diktatur herrsche, was die EU nicht im geringsten daran gehindert hat, mit diesem Land eines der tiefgreifendsten bilateralen Handelsabkommen zu schließen? [5]

Was treibt die Wallonen um, daß sie den Stachel im Fleisch des Freihandelsabkommens CETA abgeben? Ein Großteil der wallonischen Bürgerinnen und Bürger, die sich als Verlierer der Globalisierung sehen, lebt in den einst blühenden, doch im Zuge der Deindustrialisierung verarmten Revieren rings um Lüttich und Charleroi. Daß der US-amerikanische Baumaschinenhersteller Caterpillar sein Werk schließen will und damit 2200 Mitarbeiter auf der Straße landen, hat die Stimmungslage weiter verschlechtert. Auch die ländlichen Regionen Walloniens stehen dem Handelsabkommen kritisch gegenüber, befürchten sie doch Importe aus Kanada zu ihren Lasten. Und nicht zuletzt setzen die Menschen ein Zeichen gegen die Vernachlässigung und rigide Sparpolitik seitens der Regierung in Brüssel. Daß sich durch CETA ihre Lage bessern könnte, ist überhaupt nicht abzusehen. Statt dessen befürchten sie zu Recht, unter verschärftem Konkurrenzdruck weiter abgehängt und unumkehrbar in einem regionalen Armenhaus festgesetzt zu werden.

Wie wird das Armdrücken ausgehen? EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hat die Tränen der kanadischen Handelsministerin Chrystia Freeland getrocknet, ihre Abreise verhindert und den widerspenstigen Paul Magnette ins Gebet genommen. Nun wird gedroht und gelockt, gedrängt und verzögert, wobei Schulz federführend in Brüssel fortsetzt, was Sigmar Gabriel zuvor in Wolfsburg gelungen ist: Ein Sozialdemokrat muß her und den festgefahrenen Karren aus dem Dreck ziehen, wo die Kritik überhand nimmt und den großen strategischen Wurf zu Fall zu bringen droht. Hat der SPD-Vorsitzende mit hanebüchenen Versprechen den Engpaß des Delegiertenvotums gängig gemacht, so will sein Rivale um den innerparteilichen Status des Platzhirsches nun den wallonischen Ministerpräsidenten weichklopfen, bis dieser einlenkt und mit ein paar virtuellen Geschenken unter dem Arm den Weg freigibt.

Paul Magnette läßt sich schlagzeilenträchtige Ideen einfallen, schlug er doch auf dem Höhepunkt der belgischen Staatskrise 2010/11 vor, die Wallonie solle sich Deutschland anschließen, sollte der belgische Staat zerbrechen. Nun kann er die Gunst der Stunde nutzen, im parteipolitischen Konkurrenzkampf mit den aufstrebenden Kommunisten punkten und womöglich sogar den langjährigen Parteichef der belgischen Sozialisten, Elio Di Rupo, ablösen. Sowenig man dem fadenscheinigen Versuch auf den Leim gehen sollte, auf "egoistische" Motive Magnettes abzuheben, um damit die substantiellen Einwände gegen CETA auszublenden, sowenig hilft es den Gegnern des Abkommens weiter, dem wallonischen Ministerpräsidenten eine grundsätzliche Kritik am Freihandel zu attestieren, die er offenbar nicht teilt. Seine Region wolle CETA nicht verhindern, sondern nachverhandeln, wird Magnette zitiert. Sollte er Zweifel an der Tragweite seiner Opposition widerlegen und demonstrieren, daß belgische Sozialdemokraten im Unterschied zu deutschen ihren Daseinszweck nicht darin sehen, der Staatsräson innovativ zur Durchsetzung zu verhelfen und die Gegenwehr zu lähmen, würde man sich mit Freude eines Besseren belehren lassen.


Fußnoten:

[1] https://www.contra-magazin.com/2016/10/elmar-brok-bezeichnet-belgien-als-failed-state/

[2] http://www.rp-online.de/politik/ausland/ceta-freihandelsabkommen-spinnen-die-wallonen-aid-1.6342662

[3] https://www.jungewelt.de/2016/10-22/001.php

[4] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/ttip-und-freihandel/warum-stellt-sich-wallonien-gegen-ceta-14492186.html

[5] http://www.n-tv.de/politik/Schulz-verhandelt-weiter-ueber-Ceta-article18912246.html

23. Oktober 2016


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