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RAUB/1113: Neokolonialistischer Erlebniskonsum (SB)



Die Tourismusindustrie gibt sich gerne liberal, was sonst. Uneingeschränkt nicht nur im eigenen Land, sondern weltweit reisen zu können hat die Menschen seit jeher vorangebracht. Kultureller Austausch ist kolonialistischer Eroberungspolitik zweifellos vorzuziehen, und auch internationale Handelsbeziehungen könnten sich wohltuend auf alle Beteiligten auswirken, wenn sie nicht auf der Ausbeutung systematisch vertiefter Produktivitätsunterschiede und der durch Kapitalexport aus hochproduktiven Ländern vollzogenen Aneignung natürlicher Ressourcen wie menschlicher Arbeitskraft im globalen Süden basierten. Sich die soziale Verelendung und geringe Wettbewerbsfähigkeit anderer Länder zunutze zu machen, indem dort Güter des alltäglichen Bedarfs oder entsprechende Vorprodukte für den Konsum in den hochindustrialisierten Metropolengesellschaften zu Billigstpreisen hergestellt werden, ist ein wesentlicher konstitutiver Faktor der Kapitalakkumulation im globalisierten Kapitalismus.

Wirbt die Tourismusindustrie, so auf der größten Fachmesse der Welt in Berlin, ITB, mit weltoffenen und fortschrittlichen Idealen für ihr Produkt, den organisierten Massen- wie Individualtourismus, dann wird auch dieses Wohlfühlpaket von ihren Kundinnen und Kunden gerne in Anspruch genommen:

"Fremdenfeindlichkeit, Protektionismus, Populismus oder die Errichtung von Barrieren zwischen Ländern sind mit einer wirtschaftlichen prosperierenden Tourismusindustrie nicht kompatibel. Die Reisebranche ist einer der weltweit größten Industriezweige und einer der bedeutendsten Arbeitgeber, sie fördert auf vielfache Weise die Völkerverständigung und trägt zu einer nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung bei. Der Tourismus ist zudem für Menschen in zahlreichen Ländern von existentieller Bedeutung und letztendlich somit auch ein Garant für wirtschaftliche Stabilität." [1]

Schon der Verweis auf die ökonomische Zwangslage, in der sich die Bevölkerungen vieler sogenannter Destinationen befinden, läßt ahnen, daß die Reisenden nicht in jedem Fall auf echte Freude ob der Ankunft fremder Menschen treffen werden. Nicht anders als an der heimischen Supermarktkasse wird im Hotel ihres Zielortes mit einer Servicementalität bedient, deren Lächeln desto perfekter ist, als es von jeder Spur persönlichen Interesses und nicht geldwerten Gefühls bereinigt wurde. Wo die Menschen vom Tourismus aus reicheren Ländern abhängig sind, liefern sie nicht anders als bei der Lohnarbeit in der Fabrik eine Ware ab, deren Wechselwert an der Qualität der erbrachten Dienstleistung bemessen wird, die zu verbrauchen der Reisende in "den schönsten Tagen des Jahres" seinerseits einen geldwerten Anspruch hat.

Auch ist nicht bekannt, daß Tourismusunternehmen in besonderer Weise dafür eintreten, die Not von Kriegsflüchtlingen durch deren freizügiges Reisen in die Bundesrepublik und andere Länder der EU zu lindern. Nur zahlungsfähige Kunden können ihre Transportleistungen in Anspruch nehmen, und dazu gehören eher keine Flüchtlinge, selbst wenn sie lieber im Hotel als im Zelt lebten. Weltoffenheit ist eine Frage des Preises und nicht einer "Völkerverständigung", bei der sich vor allem diejenigen gut verstehen, die es sich leisten können, und internationale Solidarität mit den jeweils am meisten von Ausbeutung und Unterdrückung betroffenen Menschen eher kein Thema ist.

Ganz im Gegenteil, wenn die von Deutschland ausgehenden Flugreisen ins Ausland um 3,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zunehmen und die Tourismusbomber ihre Passagierfracht insbesondere auf spanischen Flughäfen ausspucken, dann nicht, um in dem krisengeschüttelten Land die sozialen Kämpfe der Indignados zu unterstützen. Das kollektive Besäufnis auf Malle zieht Zehntausende an, die sich ihren Urlaub auf der fest in deutscher Hand befindlichen Insel durch die Plagen einer Arbeit verdient haben, die nur in den wenigsten Fällen so selbstbestimmt verrichtet wird, daß die zersetzende Wirkung permanenter Fremdbestimmung nicht "urlaubsreif" machte. Obschon dem Arbeitszwang nicht anders ausgesetzt als ihre in Spanien schuftenden Kolleginnen und Kollegen, leben der deutsche Facharbeiter aus Wolfsburg und die migrantische Hilfskraft auf den Obst- und Gemüsefeldern Almeiras in völlig verschiedenen Welten. Für letztere besteht Tourismus darin, es aus Nordafrika bis nach Spanien zu schaffen, um dort als illegale Lohnsklaven den Käufern ihrer Arbeitskraft auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein. Erstere treffen bestenfalls als Kunden der Gastronomie oder Sexindustrie auf Migrantinnen und Migranten, um für den Tauschwert ihrer Euros physische Dienstleistungen zu erstehen.

Wo die Zonen, in denen Elend und Gewalt herrschen, den Urlaubsparadisen immer näherrücken, steigert die Sicherheit der jeweiligen Destination den Wert des Urlaubsproduktes erheblich. An einem Mittelmeerstrand liegen zu können, ohne daß sich Attentäter in die Luft jagen oder Leichen ertrunkener Flüchtlinge angeschwemmt werden, ist schon einen kleinen Aufpreis wert. Die "persönlichen Urlaubswünsche mit den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen in Einklang zu bringen" [2] heißt denn auch nichts anderes als sich die sozialen Kämpfe und Konflikte vom Leib zu halten, in die die Bevölkerungen der Urlaubsparadiese verstrickt sind.

Ganz anders allerdings im sogenannten Medical Tourism, für den es auf der diesjährigen ITB erstmals ein offizielles Forum gab. Zweck dieses Reisegeschäftes ist der ärztliche Zugriff auf den eigenen wie auf fremde Körper. Der Jahresumsatz von 439 Milliarden Dollar und eine Wachstumserwartung von 25 Prozent in den nächsten zehn Jahren [3] werden von "höheren Kosten, langen Wartelisten, restriktiven Versicherungspraktiken sowie Problemen der medizinischen Infrastruktur und politischen Regulation" verursacht. Die in Anspruch genommenen Dienstleistungen, die sich hinter dieser dürren Beschreibung der Wachstumsfaktoren des Medizintourismus verbergen, können etwa kostengünstige zahnmedizinische Behandlungen und plastische Operationen, in Deutschland untersagte reproduktionsmedizinische Dienstleistungen wie Leihmutterschaften und Eizellspenden oder Organtransplantationen, bei denen notleidende Menschen zahlungskräftigen Europäern eine Niere verkaufen, umfassen.

Wenn sich eine Stadt wie Athen als Destination auf dem Weltmarkt für Medizintourismus empfiehlt [4], während Millionen Menschen im eigenen Land kaum eine notdürftige Gesundheitsversorgung erhalten, dann wirkt sich der internationale Klassenantagonismus auch auf einen Bereich aus, in dem bislang noch mit starker staatlicher Regulation für eine gewisse Gleichberechtigung beim Erhalt medizinischer Leistungen gesorgt wurde. Mit dem anwachsenden Bedarf, der durch den Medizintourismus entsteht, wandert auch das medizinische Personal aus dem öffentlichen in den privaten Sektor ab [5]. Wenn der Wert medizinischer Behandlungen vollends den Maßstäben des Weltmarktes unterworfen ist, dann produziert die Globalisierung des Gesundheitswesens noch mehr Tote, als es das kapitalistische Weltsystem ohnehin schon tut.

Heute sind die Bevölkerungen ganzer Länder auf das Geschäft mit dem Tourismus angewiesen. Als Staffage folkloristischer Events angegafft zu werden ist Bestandteil einer neokolonialistischen Mobilität, die insbesondere bei Flugreisen erheblich zur Aufheizung der Atmosphäre beiträgt und in vielen Fällen keinen Erkenntnisgewinn erbringt, der über die Angebotspalette der Reiseveranstalter hinausgeht. Daß diese auch beim sogenannten Abenteuertourismus Erlebnisse von der Stange produzieren, deren Dramaturgie weit entfernt davon ist, sich mit den Menschen in den Reisegebieten auf die gleiche Ebene sozialer Entbehrung und politischer Unterdrückung zu begeben, wird im Sinne verlangter Sicherheit nicht nur in Kauf genommen, sondern eingefordert. Endlich einmal "live" zu erleben, was sonst nur im Fernsehen zu bestaunen ist, enthebt die Reisenden nicht des Problems, als bloße Betrachter austauschbare Adressaten einer konsumgerecht aufbereiteten Ware zu bleiben. Als wie "grün" und "nachhaltig" die Tourismusindustrie ihre Produkte auch immer verkaufen mag, entspringen sie doch einem warenproduzierenden System, das nicht auf soziale Befreiung, sondern unternehmerische Rendite aus ist.


Fußnoten:

[1] Dr. Christian Göke, Vorsitzender der Geschäftsführung der Messe Berlin GmbH
http://www.itb-berlin.de/Presse/Pressemitteilungen/News_39702.html?referrer=/de/Presse/Pressemitteilungen/#news-de-39702

[2] a.a.O.

[3] https://itb-berlin-news.com/2017/03/08/the-global-surgery-is-open/

[4] http://news.gtp.gr/2015/03/17/athens-eyes-medical-tourism-potential/

[5] http://journals.itb.ac.id/index.php/ajht/article/view/3428

13. März 2017


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