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RAUB/1117: Wachsende Wut - Generalstreik in Griechenland (SB)



Wenn von der Krise Griechenlands die Rede ist, unterstellt dies ein mögliches Ende der Katastrophe in Gestalt einer Wiederbelebung der Wirtschaft, Besserung der Lebensverhältnisse und Rückkehr zur staatlichen Souveränität. All das ist unter dem Regime der Gläubiger und einer griechischen Regierungspolitik, die Kooperation mit der Europäischen Union und dem Internationalen Währungsfonds für alternativlos erklärt, schlichtweg unmöglich. Unter diesen Voraussetzungen wird die heute lebende Generation das Ende der Krise nicht mehr erleben, was nicht gleichbedeutend damit ist, daß es der darauffolgenden besser ergeht. Der IWF spricht unverhohlen von der schlimmsten Krise aller Zeiten, vergleichbar allenfalls mit der Großen Depression, die jedoch nach etwa vier Jahren geendet hat. Die Griechinnen und Griechen kämpfen bereits seit über acht Jahren gegen den Untergang, die hellenische Wirtschaft ist seit 2008 um ein Viertel geschrumpft, und die Investitionen gingen um mehr als die Hälfte zurück. Während die Staatsverschuldung vor der Krise 65 Prozent der Wirtschaftsleistung betragen hat, ist sie seither auf rund 315 Milliarden Euro gestiegen, was 179 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht.

Obgleich Griechenland diese Schulden unmöglich zurückzahlen kann, sieht der Langzeitplan der Eurogruppe vor, die Staatsschulden auf 74 Prozent des BIP im Jahr 2060 zu reduzieren. Um dies zu erreichen, fordert sie mehrheitlich einen Primärüberschuß von 3,5 Prozent, den selbst der IWF für unerreichbar hält und die Zielmarke auf 1,5 Prozent senken will. Das würde jedoch bedeuten, daß die Schulden umstrukturiert und in Teilen erlassen werden müßten, um einen Staatsbankrott zu vermeiden, was insbesondere die Bundesregierung rigoros ablehnt. Da die kollaborierende Syriza-Regierung nur über eine knappe Mehrheit im Parlament verfügt und angesichts ihrer grausamen Sparpolitik unter massivem Druck steht, will die EU dem absehbaren Regierungswechsel mit einem Rahmenabkommen vorbeugen, das die Austeritätspolitik auf Jahrzehnte hinaus festschreibt. Als Gegenleistung für eine mögliche Verlängerung der Fälligkeitsfristen für die Schulden und eine Obergrenze für jährliche Zinsen und Schuldenrückzahlungen sollen "Maßnahmen auf Vorrat" etabliert werden, die automatisch weitere Kürzungen in Kraft setzen, sobald die geforderten Haushaltsüberschüsse verfehlt oder die Rückzahlungsfristen nicht eingehalten werden. So droht das Erbe Syrizas der nachfolgenden Administration die Hände von vornherein zu binden.

Seit Beginn der Krise wurde in Griechenland vierzehnmal die Rente gekürzt, insgesamt um durchschnittlich 40 Prozent. Nach offiziellen Angaben erhalten 45 Prozent der Rentner Zahlungen unterhalb der Armutsgrenze von monatlich 665 Euro, die tatsächliche Zahl der Armen liegt noch weit höher. Da ein Viertel der Arbeiter und die Hälfte der Jugendlichen arbeitslos ist und oftmals ganze Familien mangels einer nennenswerten Sozialversicherung auf die Renten ihrer Großeltern oder Eltern angewiesen sind, haben diese Kürzungen unausweichlich verheerende Elendsfolgen. Mit Armut, Hunger, Krankheit und vorzeitigem Tod, von Entwürdigung und anderen Qualen ganz zu schweigen, bezahlt die griechische Bevölkerung die Alimentierung des kerneuropäischen Kapitalverwertungsregimes. Selbst konservative deutsche und französische Wirtschaftsmedien kolportieren es längst als unbestreitbares Faktum, daß von den 215,9 Milliarden Euro, die die europäischen Institutionen für Griechenland aufbrachten, weniger als zehn Milliarden Euro die Konten der griechischen Regierung erreicht haben. Der allergrößte Teil floß in die Ablösung alter Schulden, Zinsen und Rettung der griechischen Kreditinstitute, unter dem Strich also vor allem in die Rettung deutscher und französischer Banken.

Im Zuge der aktuellen Austeritätsmaßnahmen, die EU und IWF monatelang mit Athen ausgehandelt haben, hat Finanzminister Tsakalotos ein neues Sparpaket in Höhe von 4,9 Milliarden Euro vorgelegt. Die Zustimmung des Parlaments ist Voraussetzung für die Bereitstellung frischen Geldes aus dem 86 Milliarden Euro schweren dritten Kreditprogramms. Im Juli stehen Rückzahlungen in Höhe von sieben Milliarden Euro an, die Griechenland aus eigener Kraft nicht leisten kann. [1] Die jüngsten Sparmaßnahmen sehen weitere Rentenkürzungen von neun bis achtzehn Prozent, die Ausdehnung der Einkommenssteuerpflicht auf Jahreseinkommen von über 5681 Euro, die Kürzung des staatlichen Heizkostenzuschlags, der Arbeitslosenversicherung und anderer Programme um bis zu 50 Prozent sowie den Abbau der rechtlichen Hürden für Massenentlassungen und weitere Privatisierungen öffentlicher Unternehmen vor. Offenbar verpflichtet sich Syriza zudem zur Einführung von Gesetzen, die das Streikrecht einschränken und das Verbot von Streiks erleichtern. Ministerpräsident Alexis Tsipras schreckte nicht vor der Prognose zurück, diese Maßnahmen würden einen "Investitions-Tsunami" auslösen, wobei er nicht näher ausführte, ob er sich von der extrem ausgebeuteten griechischen Arbeiterschaft Kapitalzuflüsse woher auch immer erhofft. [2]

Die Regierung unter Tsipras und seinem rechtspopulistischen Juniorpartner der Unabhängigen Griechen (Anel) plant als angebliches Gegengewicht zu den Sparmaßnahmen Initiativen zur Ankurbelung der Wirtschaft sowie gegen Armut. Dazu gehören die Einrichtung kostenfreier Kantinen, Kinderkrippen sowie Zuschüsse für Medikamente und Mieten - kurz ein Tropfen auf dem heißen Stein der abermals verschärften Austeritätspolitik. Im Vorfeld der Abstimmung im Parlament hatten mehrere Gewerkschaften zum Generalstreik aufgerufen, so der Gewerkschaftsbund des öffentlichen Dienstes Adedy, die Privatsektorgewerkschaft GSEE und Pame, die der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) nahesteht.

In Athen beteiligten sich Zehntausende Menschen an mehreren Protestveranstaltungen, vielerorts stand das öffentliche Leben zeitweise still. Die Panhellenische Seeleutegewerkschaft kündigte die Ausweitung ihres Streiks an, wovon vor allem die griechischen Inseln betroffen sind, da der Fährverkehr zum Erliegen kam. Beschäftigte der staatlichen Bahn- und Busunternehmen in der Hauptstadt legten befristet die Arbeit nieder, viele Kliniken, Ämtern, Ministerien, Schulen und Museen waren vorübergehend geschlossen. Auch die Fluglotsen streikten vier Stunden lang, so daß mehrere Flüge verschoben werden mußten oder ganz ausfielen. In Thessaloniki setzten die 2.300 Beschäftigten der städtischen Verkehrsbetriebe ihren Streik fort, mit dem sie auch die Zahlung ausstehender Löhne für März und April fordern. Das Management lehnt diese Forderung ab und versucht, den Streik gerichtlich verbieten zu lassen, hat aber den ersten Prozeß verloren.

In mehreren Städten versammelten sich die Menschen zu Demonstrationen und Protestmärschen. Die größte Aktion fand in Athen statt, wo sich nach Angaben der Gewerkschaften bis zu 15.000 Menschen beteiligten. In der Innenstadt kam es zu Auseinandersetzungen, als die Sicherheitskräfte Augenzeugenberichten zufolge Tränengas einsetzten, um die Teilnehmer auseinanderzutreiben. Aus den Reihen der Demonstranten seien Feuerwerkskörper abgeschossen worden. [3] Viele Journalisten, die am Dienstag die Arbeit niedergelegt hatten, waren am Mittwoch wieder im Dienst, um über den Ausstand zu berichten.

Alekos Perrakis, Leitungsmitglied der Gewerkschaft Pame, bezeichnete den Generalstreik als ein "entschlossenes Signal an die Regierung, die EU und den IWF". Er fügte hinzu: "Wir werden nicht zulassen, dass sie unser Leben in Stücke schneiden." Allein die Steuererhöhungen bedeuteten den Verlust von anderthalb Monatsgehältern. Auf dem Lykabettos-Hügel oberhalb von Athen entfalteten Polizeigewerkschafter ein riesiges schwarzes Banner, auf dem in Deutsch und Griechisch an die Adresse der Regierungschefs Angela Merkel und Alexis Tsipras zu lesen stand: "Was ist das Leben eines Polizisten wert?" Wenngleich Einheiten der Bereitschaftspolizei das Parlamentsgebäude abriegelten, um seine Erstürmung durch Demonstranten zu verhindern, gelang es doch mehreren Gewerkschaftern und anderen Einzelpersonen, ins Gebäude einzudringen und Syriza-Abgeordnete, die über den Gesetzesentwurf diskutierten, mit Zwischenrufen zu konfrontieren: "Schämt ihr euch nicht?" "Ihr habt nichts mit Linken zu tun!" "Ihr verschachert alles!"

Griechenland gleicht einem Konverter, in dem EU und IWF mittels eines massiven Spardiktats die Menschen in einem beispiellosen Maße auspressen und ausbluten lassen, während sie zugleich innovative Strategien der Befriedung einer verzweifelten Bevölkerung erproben und exerzieren. Die Syriza-Regierung ist als ideologische und administrative Schnittstelle solange brauchbar, bis sie aus dem Amt gejagt wird. Sie hat eine massenhafte Protestbewegung kanalisiert und zahnlos gemacht, das Austeritätsregime akzeptiert und umgesetzt, jede Möglichkeit eines Auswegs für obsolet erklärt, da ohne sie oder gar bei einer Erhebung gegen die Gläubiger alles noch viel schlimmer käme. Die Frage, ob nicht gerade diese Drohung das Eisen ist, aus dem die Ketten unausweichlichen Verhängnisses geschmiedet sind, soll versiegelt bleiben.


Fußnoten:

[1] https://www.tagesschau.de/ausland/griechenland-schuldenkrise-streik-101.html

[2] https://www.wsws.org/de/articles/2017/05/19/grie-m19.html

[3] http://www.handelsblatt.com/politik/international/sparmassnahmen-in-griechenland-streiks-und-proteste-in-athen/19816430.html

19. Mai 2017


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