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RAUB/1135: Alter - volle Gesundheitsversorgung obsolet ... (SB)



Wird ein Tabu beim Namen genannt, dann steht seine Überwindung an. Doch ganz so tabu, wie die Urheber des Schweizer Dokumentarfilms "Was kostet uns das Älterwerden?", der am 16. Mai auf 3sat ausgestrahlt wurde, glauben machen, ist das Thema der in den letzten Lebensjahren und -monaten anfallenden Gesundheitskosten schon lange nicht mehr. Ganz im Gegenteil, es könnte über die verschämte Rumdruckserei, in Anbetracht des Ablebens eines geliebten Menschen schnöde materielle Bedenken auszusprechen, gar nicht wirkungsvoller exponiert werden.

So verbrauche der alte Mensch Gesundheitsleistungen im letzten Jahr seines Lebens in Höhe eines Geldbetrages, der so hoch ist wie alle medizinischen Kosten, die er im Leben zuvor angehäuft hat. 4000 Franken am Tag kostet der Aufenthalt in der Intensivstation, und ein Krebsmedikament wie Pertuzumab (Handelsname "Perjeta"), das als sehr wirksam gilt, schlägt mit 7000 Franken im Monat zusätzlich zu allen anderen Behandlungskosten zu Buche.

Wo mit derartigen Summen jongliert wird, kann es nicht verwundern, daß nach Kosten und Nutzen, nach Aufwand und Rentabilität gefragt wird. Gegenüber der Frage, wie viele Ressourcen der Gesellschaft überhaupt zur Verfügung stehen und wie sich diese gerecht verteilen lassen, wird das Einzelschicksal auf eine Weise rechenschaftspflichtig, daß die Beantwortung der Frage, ob man einen 90jährigen Patienten noch wiederbeleben solle, wie behauptet, nichts mit Kosten, sondern nur mit Vernunft zu tun habe, allemal einleuchtet.

Auf den rationalen Kern dieser Vernunft gebracht, handelt es sich bei dem Anspruch, jedem Menschen unabhängig von sozialer Herkunft und Stellung die gleichen medizinischen Leistungen zur Verfügung zu stellen, um ein längst überkommenes Ideal. So erklärt Ignazio Cassis, ehemaliger Präsident der Gesundheitskommission:

"Wir sind in eine Art kollektiven Wahns verfallen, der auf den ethischen Grundlagen der 60er und 70er Jahre beruht. Diese haben funktioniert, als die Medizintechnologie noch billiger und weniger mächtig war. Heute stellt sich die Frage, ob wir uns diese Technologie, von der jeder profitieren könnte, wirklich leisten können oder ob wir strengere Regel und Prioritäten einführen sollten so wie andere Länder auch, die nicht genügend Geld haben." [1]

Da die Entwicklung der Medizintechnologie parallel zur allgemeinen Entwicklung der Produktivkräfte erfolgt, kann diese Erklärung nicht befriedigen. Der Unterschied zu der politischen Ära vor 50 Jahren besteht vielmehr darin, daß die Totalität des Marktes Berechnungen erzwingt, die damals aus Gründen prinzipieller Humanität nicht angestellt wurden. Gerade der Verbrauchslogik des NS-Staates entkommen, für den Behinderte nichts als "Ballastexistenzen" waren, war soziale Gerechtigkeit in Arztpraxis und Krankenhaus ein höchst vernünftiges Anliegen.

Die anhand vermeintlicher demographischer Sachzwänge betriebene Aufkündigung des Solidarprinzipes ist nichts anderes als die Wiedereinführung einer Wertbestimmung des einzelnen Menschen durch die Hintertür der Marktlogik. Wenn nichts anderes als Euro und Cent zählen, kann der Zugang zu sozialen Leistungen, die nicht in den Spiegel ihres am jeweiligen Leistungsempfänger bemessenen Nutzens für die Gesellschaft gestellt werden, nur mit Argumenten verteidigt werden, die gerade unter den Stiefeln der Neuen Rechten und ihrer Zuträger in der politischen Mitte zunichte gemacht werden.

Während Behandlungseinschränkungen und -beendigungen in der letzten Lebensphase in dem Film mehr oder minder offen gutgeheißen werden, wird das Thema der ärztlichen Sterbehilfe so angestrengt vermieden, daß es eine deutlich klaffende Lücke in der Argumentation eines zur Disposition ökonomischer Zwänge gestellten Lebensendes hinterläßt. Gemieden wird auch der Verweis auf der marktgerechten Rationalisierung des Medizinbetriebes adäquate Konzepte wie Advance Care Planning (ACP) [2], mit Hilfe derer schon weit im Vorwege des nahenden Ablebens Therapiebegrenzungen festgelegt werden sollen. All das gibt es bereits und entfernt sich immer weiter vom schönen Schein humanitärer Vorwände. Dahinter tritt ein Sozialdarwinismus hervor, der nicht nur ältere und behinderte Menschen um ihr Leben fürchten lassen muß.

Unhinterfragt in dem Dokumentarfilm bleiben die eigenen Wertvorstellungen, mit denen etwa die Gegenüberstellung von Bildungskosten und doppelt so hohen Gesundheitskosten betrieben wird. Wenn er anhand von Ausschnitten aus dem Kurzfilm "Panthéon Discount" mit der dystopischen Vision ausklingt, daß das Weiterleben in körperlich bedrängter Lage künftig von der Dicke der eigenen Brieftasche abhängen könnte, dann werden offene Türen längst erfolgender Rationalisierung in Medizin und Gesundheitswesen eingerannt. Anstatt die Menschen auf ihre Zustimmung zu einer notgedrungenen Mangelordnung vorzubereiten, ließe sich auf vielerlei Weise diskutieren, wie eine Gesellschaft eine diskriminierungsfreie Gesundheitsversorgung etablieren könnte. Ohne den kritischen Blick auf die zentrale Achse zeitgemäßer Menschensortierung, die Totalität des Marktes als unhintergehbarer Maßstab für die Legitimität jeglichen Lebens, zu werfen, bleibt seine Unterwerfung unter die Kuratel optimaler Verwertbarkeit unbestritten.


Fußnote:

[1] Was kostet uns das Älterwerden?
http://www.3sat.de/page/?source=/sfdrs/197192/index.html

[2] BERICHT/024: Sterben nach Plan - Regeln für Hilflose ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/pannwitz/report/pprb0024.html

19. Mai 2018


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