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RAUB/1166: Medizin - ein Mordsystem ... (SB)



Nach allem, was bisher bekannt ist, wurde dort vertuscht. Man hat dort die Warnzeichen nicht übersehen, sondern aktiv verdrängt. Niels Högel hat sogar ein gutes Zeugnis bekommen und man hat ihn weggelobt, als deutlich wurde, dass etwas nicht stimmt. Der drohende Imageschaden für das Haus wurde höher bewertet als das Wohl der Patienten.
Karl H. Beine (Chefarzt und Professor für Psychiatrie) [1]

Vor dem Landgericht Oldenburg hat ein Prozeß zur größten Mordserie der deutschen Nachkriegsgeschichte begonnen. Angeklagt ist der 41jährige ehemalige Krankenpfleger Niels Högel, der bereits in früheren Verfahren wegen der Tötung von sechs Patienten zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. Zum Prozeßauftakt hat er nun 100 weitere Morde eingeräumt, wobei die genaue Zahl der Opfer unbekannt ist. Er verübte die Taten zunächst in Oldenburg und dann in Delmenhorst jeweils in der Intensivmedizin. Daß er fünf Jahre lang ungehindert morden konnte wirft die Frage auf, ob das womöglich nur die Spitze des Eisbergs in Gestalt eines lebensgefährlichen Krankenhaussystems ist, in dessen "Normalbetrieb" zahlreiche Menschen durch Behandlungsfehler, unzureichende Versorgung oder Nichtbeachtung zu Tode gebracht werden.

Wegen der außergewöhnlichen Dimension des Prozesses dient der große Festsaal der Weser-Ems-Hallen als Gerichtssaal. 126 Angehörige der Opfer sind als Nebenkläger zugelassen, sie werden von 17 Anwälten vertreten. Die Vernehmung des Angeklagten wird auf zwei Leinwänden gezeigt, damit alle Anwesenden das Geschehen wie aus nächster Nähe verfolgen können. Der Prozeß begann mit einer Schweigeminute für die Toten, dann wandte sich der Vorsitzende Richter Sebastian Bührmann, der bereits die Prozesse 2008 und 2014/15 gegen Högel geführt und ihn verurteilt hatte, mit einigen Erklärungen an die Nebenkläger, die zum ersten Mal dem Mann gegenübersaßen, der ihre Angehörigen ermordet haben soll. Bührmann bat sie, auf sich achtzugeben, jederzeit könnten sie den Saal verlassen. In der Weser-Ems-Halle kümmern sich Vertreter des Weißen Rings und der Stiftung Opferhilfe um sie.

Der Richter erklärte, was dieser Strafprozeß leisten kann und was nicht. Wenngleich auch zur Sprache kommen werde, inwiefern noch andere Klinikmitarbeiter Schuld am Tod dieser Menschen tragen, beschränke sich das Verfahren ausschließlich auf die Frage nach der Schuld des Angeklagten. Allein das Verlesen der Anklage dauerte mehr als eine Stunde, obgleich sich Oberstaatsanwältin Daniela Schiereck-Bohlmann knapp hielt und jeweils nur den Namen, das Geburtsdatum und den Todestag der Patienten vorlas, dazu noch ein bis zwei Sätze zum ermittelten Tatablauf. Die Ermittler gehen davon aus, daß es noch viel mehr als 100 Opfer gibt, möglicherweise sind es bis zu 200. Doch da die Toten in vielen Fällen feuerbestattet wurden, war es den Rechtsmedizinern dann unmöglich, noch Spuren von Medikamenten zu entdecken. [2]

Die Taten soll Högel zwischen Februar 2000 und Juni 2005 erst im Klinikum Oldenburg, dann im Klinikum Delmenhorst begangen haben. Er verabreichte seinen Patienten Medikamente, um sie an den Rand des Todes zu bringen. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, daß er dies tat, um von Kollegen und Vorgesetzten für seine Fähigkeit der anschließenden Reanimation Anerkennung und Bewunderung zu erhalten. Daß viele seiner Opfer die Tortur nicht überlebten, habe er billigend in Kauf genommen. Auf die Frage des Richters, ob die Vorwürfe so größtenteils zuträfen, antwortete Högel: "Ja, das, was zugegeben worden ist, ist auch so." 36 Menschen soll er in Oldenburg ermordet haben, 64 in Delmenhorst. Im Prozeß 2014/2015 hatte er noch nichts von den Morden in Oldenburg verraten und damals beteuert, die Wahrheit zu sagen. Wie er nun erklärte, habe er diese Taten damals aus Scham vor seiner Familie verschwiegen und sie auch vor sich selbst nicht wahrhaben wollen. [3]

Niels Högel ist keineswegs der einzig bekannte Täter dieser Art. So wurden allein im deutschen Sprachraum seit 1970 zehn Tötungsserien in Kliniken und Heimen aufgedeckt, den rechtskräftig verurteilten Tätern 111 vollendete Tötungen nachgewiesen. Die Dunkelziffer könnte noch erheblich höher sein. Alle Tötungsserien wurden verspätet aufgedeckt, da man zum einen in Klinik oder Heim nicht mit Mord und Totschlag rechnet, zum anderen der Tod dort zum Alltag gehört und daher kaum auffällt. Insbesondere aber war fast nirgendwo ein glaubwürdiger Aufklärungswille zu erkennen, da die betroffenen Einrichtungen offenbar einen massiven Imageschaden und wirtschaftliche Konsequenzen fürchteten. Alle zehn überführten Täter hatten pflegerische Berufe, und obgleich ihre Profile einige Gemeinsamkeiten aufweisen, gibt es kein fallübergreifendes Erklärungsmuster. Die These, es handle sich um krasse Einzelfälle von Psychopathen, ist nicht haltbar. Vielmehr hat man es mit einem System zu tun, das solche und andere Tötungen begünstigt.

Karl H. Beine, Chefarzt und Professor für Psychiatrie, hat bereits 2015 den Prozeß gegen Högel beobachtet, rund 5000 Beschäftigte in deutschen Krankenhäusern und Pflegeheimen zur Gewalt in ihrem Arbeitsalltag befragt und gemeinsam mit Jeanne Turczynski ein Buch zu diesem Themenkomplex geschrieben [4]. Wenngleich es sich bei der Befragung um keine repräsentative Studie handelt, lassen die Ergebnisse doch auf ein gravierendes Ausmaß von Gewalt in solchen Einrichtungen schließen. So wußte die Hälfte der Befragten von Fällen zu berichten, in denen Patienten verbal angegangen oder beschimpft wurden. 3,8 Prozent der Beteiligten aus den pflegerischen Berufen hatten davon gehört, daß an ihrem Arbeitsplatz das Leben von Patienten aktiv beendet worden sei. 1,5 Prozent aus dem Bereich Pflege gaben an, das Leiden von Patienten selbst schon aktiv beendet zu haben, bei den Ärzten waren es 3,4 Prozent.

Um diese lange verschwiegene und ausgeblendete Problematik zu Gehör zu bringen, rechneten die Autoren diese Zahlen auf die Gesamtheit aller in Deutschland tätigen Ärzte und Pflegekräfte in solchen Einrichtungen hoch, wonach es zwischen Oktober 2014 und Oktober 2015 zu insgesamt mehr als 21.000 Opfern gekommen sein könnte. Wenngleich diese Kalkulation wissenschaftlich nicht gesichert ist und vor allem als Aufruf intendiert war, sich mit dieser keineswegs marginalen Problematik auseinanderzusetzen, ist deren mögliche Dimension nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Bei der Veröffentlichung dieser Zahlen setzte es heftige Kritik. Angefangen vom Patientenbeauftragten der Bundesregierung über die Deutsche Krankenhausgesellschaft und Ärztekammern bis hin zur Deutschen Stiftung Patientenschutz zeigte man sich empört und sprach von einem unhaltbaren Generalverdacht gegen eine ganze Berufsgruppe, der das Vertrauen untergrabe. Ein skandalisierender Umgang mit unrealistischen Zahlen befördere eine nicht zu verantwortende Panikmache. Diese heftige Zurückweisung nährt indessen den Verdacht, daß sich an dieser Stelle dieselbe kritikresistente Verteidigung eben jenes Systems wiederholt, das die monierten Mißstände bis hin zu gravierendsten Übergriffen auf Schutzbefohlene möglich macht.

Die Tötungsserien in deutschen Krankenhäusern lassen existierende Fehlerketten im Kontext ökonomischer Zwänge und hoher Arbeitsbelastung besonders deutlich hervortreten. Fehlende Kontrollmechanismen, ignorierte Verdachtsmomente und das massive Mauern letztlich Mitverantwortlicher in Kliniken, Behörden und Justiz zeugen davon, daß ein Krankenhaus der ideale Ort sein kann, um Menschen zu töten. Im Falle Niels Högels fiel angeblich weder der deutliche Anstieg von Sterbefällen in seiner Dienstzeit noch der enorme Verbrauch von Medikamenten, die er bei seinen Taten verwendete, auf. Die Behauptung, niemand habe etwas geahnt oder gewußt, ist nicht haltbar. Als sich die Vorbehalte gegenüber dem als unheimlich empfundenen "Pechbringer" und "Unglücksraben" im Kollegenkreis häuften, unterbreitete ihm der zuständige Chefarzt in Oldenburg ohne Angabe von Gründen die Alternative, entweder in den Hol- und Bringedienst degradiert zu werden oder einen Auflösungsvertrag samt einem guten Arbeitszeugnis zu erhalten. Höger zog letzteres vor, verließ das Klinikum und fand wenig später eine Stelle als Intensivpfleger in Delmenhorst, wo er weitere Morde verübte. Ohne den jahrelangen Kampf zahlreicher Opferangehöriger, die weitere Ermittlungen erzwangen, wäre es niemals zur weitreichenden Aufklärung und den Prozessen gekommen.

Die lebensgefährlichen Zustände in deutschen Kliniken sind eine Folge des Anfang der 2000er Jahre etablierten Systems der Fallpauschalen oder DRGs (Diagnosis Related Groups), die zu einem Schub der Ökonomisierung im Gesundheitswesen führten. Die Verweildauer im Krankenhaus wurde erheblich gesenkt, während zugleich in keinem OECD-Land so viele Menschen stationär behandelt werden wie in Deutschland. Die Kliniken bevorzugen, was Geld bringt: Nicht das aus medizinischer Sicht beste und für den Patienten förderlichste Vorgehen genießt Priorität, sondern das wirtschaftlich einträglichste. Der Case-Mix-Index (CMI), der Krankenhauspatienten nach ihrem ökonomischen Wert bemißt, wird zur Richtschnur.

Die unter Kostendruck geratenen Kliniken nahmen die meisten Einsparungen im Pflegebereich vor. Zehntausende Stellen wurden gestrichen, nur relativ wenige neu geschaffen. Zudem können vielerorts offene Stellen nicht besetzt werden, weil inzwischen ein gravierender Fachkräftemangel herrscht. Hinzu kommt die dramatische Entwicklung im Pflegebereich: In Deutschland sind 2,6 Millionen Menschen pflegebedürftig, 2030 könnten es bereits 3,4 Millionen sein. Ein Drittel dieser Menschen wird derzeit in Heimen und Krankenhäusern betreut, was diese Einrichtungen an den Rand der Belastbarkeit und nicht selten darüber hinaus treibt.

Die Leistungsverdichtung der Pflegekräfte nimmt zu, physische Anforderungen und psychischer Druck erhöhen den Streß. Die Folge sind ständige Überlastung bis hin zu Zusammenbrüchen, fehlende Kommunikation im Kollegenkreis, ein hoher Krankenstand, Frustration und die Flucht in Teilzeit oder Kündigung. Für die Patienten ist damit eine zwangsläufig schlechtere Versorgung bis hin zu Lebensgefahr verbunden. So haben Studien nachgewiesen, daß mit steigender Arbeitsbelastung der Pflegekräfte auch die Sterberate auf den Stationen steigt. Der AOK-Krankenhaus Report 2014 zum Thema Patientensicherheit kam zu dem Schluß, daß es in fünf bis zehn Prozent der Fälle zu "unerwünschten Ereignissen" komme. In Deutschland sterben jedes Jahr etwa 19.000 Menschen durch Fehlbehandlungen im Krankenhaus. Zugleich erschwert die strikte Trennung von Medizin und Pflege einen übergreifenden Austausch und fördert die gegenseitige Bezichtigung. Fehler werden nicht eingestanden, im Alltag fehlen Zeit und Raum für eine adäquate Diskussionskultur.

Wie Beine hofft, könne der Prozeß in Oldenburg lehren, den Anfängen zu wehren und die Alarmzeichen zu erkennen. Zugleich bringe er Recht und Sühne für die Hinterbliebenen der Opfer, die ihnen die Justiz so lange verwehrt hat. Vor allem aber erwarte er von einem nachfolgenden Verfahren gegen die Verantwortlichen in den Krankenhäusern Antworten darauf, warum das Versprechen nicht umgesetzt wurde, die Sicherheit der Patienten zu garantieren. Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz fordert ein anonymes Whistleblower-System in den Kliniken wie auch digitale Medikamentenakten, zentrale Ermittlungsgruppen für medizinische und pflegerische Delikte sowie flächendeckende amtsärztliche Leichenschauen. Pflege mache keine Mörder, aber Medizin und Pflege mache es Mördern zu leicht, weshalb eine Kultur des Hinschauens erforderlich sei, um aktiven Patientenschutz zu etablieren. [5]

Ohne die Erfordernis solcher Maßnahmen in Abrede zu stellen, bedürfte es schon einer tiefgreifenden Kursänderung, um die Gesundheitswirtschaft, deren Dienstleister sich ausschließlich an der Profitmaximierung orientieren und Kosten senken, indem sie Mitarbeiter und Patienten ausbeuten, durch eine qualifizierte Versorgung zu ersetzen. Wenngleich es nicht an Vorschlägen mangelt, wie das zu bewerkstelligen sei, stellen sich doch noch grundsätzlichere Fragen wie jene, ob die Negation des bestmöglichen Gesundheitssystems für alle nicht zu den zentralen Momenten des Ausschlusses im Kontext der fundamentalen gesellschaftlichen Widerspruchslagen zählt.


Fußnoten:

[1] www.sueddeutsche.de/panorama/fall-niels-hoegel-interview-karl-h-beine-1.4190195

[2] www.nwzonline.de/region/oldenburg-mordprozess-in-oldenburg-hoegel-ich-haette-auch-im-pius-anfangen-koennen_a_50,2,4269467570.html

[3] www.spiegel.de/panorama/justiz/niels-hoegel-was-beim-prozessauftakt-in-oldenburg-geschah-a-1235968.html

[4] Karl H. Beine, Jeanne Turczynski: Tatort Krankenhaus. Wie ein kaputtes System Misshandlungen und Morde an Kranken fördert, Droemer Verlag München 2017, 256 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-426-27688-4
www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar681.html

[5] www.deutschlandfunk.de/patientenschutz-eine-kultur-des-hinschauens-ist-keine-kritik.694.de.html

1. November 2018


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