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RAUB/1167: Deutschland - Armutsglobalisierung ... (SB)



Wohnen ist in deutschen Großstädten in vielen Fällen zum Armutsrisiko, in jedem Fall zum Überschuldungsrisiko geworden. Gerade für Familien und insbesondere für Alleinerziehende schaffen die Entwicklungen am Wohnungsmarkt eine gefährliche Situation.
Aus dem neuen Schuldneratlas der Creditreform [1]

Zu der allenthalben angemahnten Verteilungsgerechtigkeit wird es in dieser Gesellschaft nicht kommen. Sie gründet auf einer Eigentumsordnung und Produktionsverhältnissen, die Verfügung und Ausbeutung innovativ fortschreiben. Mithin ist die Herstellung von Armut und Elend, der Verbrauch und Verschleiß menschlicher Arbeitskraft, die Ausplünderung und Verwüstung natürlicher Ressourcen kein unerwünschter Nebeneffekt, der sich abstellen ließe, sondern letztendlich Ratio und Ziel einer Herrschaft, die sich nur über Unterwerfung und Vernichtung definieren und realisieren kann. Daß sich in zunehmendem Maße eine Art neofeudale Ständegesellschaft herauskristallisiert, in der unüberbrückbare Grenzen die Lebenssphären voneinander scheiden, während ein rasant wachsendes Armutsheer von Dienstboten und Arbeitssklaven lokal und global die Bedürfnisse der wohlhabenderen Schichten bedient liegt in der Logik der Mangelregulation.

Wie man tagtäglich in allen Medien nachlesen kann, werden in der Bundesrepublik die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer, wachsen Wohnungsnot, fehlender Zugang zu einer angemessenen Versorgung und Ausschluß von existentiellen Entfaltungsmöglichkeiten zusehends an. Auch an Verwunderung, daß diese Entwicklung trotz "Rekordbeschäftigung" und "hohen Tarifabschlüssen" in diversen Branchen unvermindert ihren Lauf nimmt, fehlt es nicht. Selbst Vorschläge, wie das zu ändern sei, sind wohlfeil zu haben: Es müßten eben mehr Vollzeitarbeitsplätze und erschwingliche Wohnungen in begehrten Städten geschaffen werden, was staatliche Steuerungskompetenz zu begünstigen habe, damit die Märkte zum Wohle aller ihr Werk tun könnten, so der regressive Rekurs auf verflossene ordoliberale Zeiten boomender Kapitalverwertung in der Produktionssphäre.

An Regierungspolitik zu appellieren, sie möge ihr Kerngeschäft an den Nagel hängen, nämlich die profitgetriebene Ökonomie zu ölen und zu schmieren, um den Motor deutscher Vorherrschaft samt eines vergleichsweise hohen Lebensstandards zumindest für Teile der Bevölkerung am Laufen zu halten, hieße den Bock zum Gärtner machen. Allenfalls ließe sich ihr durch Sozial- und Arbeitskämpfe einiges abringen, sofern diesen nicht durch gewerkschaftliche, institutionelle und parteipolitische Filter der Zahn gezogen wird. Dabei gilt es zu berücksichtigen, daß repressive Staatlichkeit mit Notstandsverordnungen und Polizeigesetzen längst Position bezogen hat, jedwede Revolte im Keim zu ersticken und einen Gesellschaftsentwurf durchzusetzen, dessen Verengung auf ein System von Zuteilung oder Vorenthalt existenzsichernder Güter und Leistungen erprobte Vorläufer wie Hartz IV und Konsorten weit in den Schatten zu stellen droht.

Vor dem Hintergrund solcher Erwägungen ließe sich womöglich sogar der neue Schuldneratlas der Creditreform nutzbringender als gleichgültig bis empört lesen und diskutieren, den die Wirtschaftsauskunftei in Düsseldorf vorgestellt hat. Untersucht wird darin die Überschuldung, worunter Menschen gefaßt werden, die ihre Ausgaben über eine längere Zeit nicht begleichen können. Dazu zählen zum einen harte Fälle in Schuldnerverzeichnissen, in denen Privatinsolvenz angemeldet wurde oder Forderungen von Inkassounternehmen bestehen. Zum anderen nennt Creditreform auch sogenannte weiche Fälle, in denen Menschen mehrere vergebliche Mahnungen von unterschiedlichen Gläubigern erhalten haben. Insgesamt, so das Fazit des Reports, seien gut zehn Prozent der volljährigen Menschen in Deutschland überschuldet.

Heute sind demnach gut 6,9 Millionen Menschen überschuldet, etwa 19.000 mehr als noch vor einem Jahr. Das ist der fünfte Anstieg in Folge. Die höchste Überschuldungsquote mißt Creditreform unter Menschen, die zwischen 30 und 39 Jahren alt sind, doch "wirkliche Sorgen" bereite die Überschuldung alter Menschen. In diesem Jahr steckten 69.000 mehr über 70jährige in Zahlungsschwierigkeiten als im Vorjahr, das entspricht einer Zunahme um 35 Prozent. Immer mehr Rentner seien auf zusätzliche Einnahmen, etwa Minijobs, angewiesen, um den gewohnten Lebensstandard für Wohnung und Konsum halten zu können. Das seien in den allermeisten Fällen geringfügig Beschäftigte, und weil Rentner relativ geringe Einkünfte haben, hätten sie es im Alter noch schwerer, Schulden abzubauen.

Der aktuelle Anstieg der Überschuldungsfälle sei ausschließlich auf die Neuüberschuldung von Frauen zurückzuführen, bei denen es rund 21.000 zusätzliche Fälle gegeben habe. Bei den Männern fielen die Zahlen dagegen um knapp 2000, wobei insgesamt weiter deutlich mehr Männer als Frauen ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können. Einen Lichtblick sehen die Experten lediglich bei jungen Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren, deren Überschuldung spürbar zurückging. Dies wird auf bessere Beschäftigungsmöglichkeiten zurückgeführt. Insgesamt gesehen besteht offenbar ein Zusammenhang mit der Schulbildung, denn während 12,3 Prozent der Verbraucher ohne Schulabschluß überschuldet sind, liegt der Anteil derjenigen mit Fachhochschulreife bei 8,3 Prozent. [2]

Als zentrales Moment bei der Überschuldung bezeichnet der Bericht die stark gestiegenen Preise für Wohnen, das in deutschen Großstädten in vielen Fällen zum Armutsrisiko geworden sei. Unerschwingliche Mieten, immer weniger Sozialwohnungen, lange Wartelisten in Studentenheimen, doch während in den Städten viele Zugezogene um Wohnungen konkurrieren, stehen auf dem Land vielerorts ganze Häuser leer. Städtische Mieter müssen einen immer höheren Anteil ihres Einkommens für die Miete ausgeben, heißt es in dem Bericht. Während die Kaufkraft nur noch langsam zulege, hätten sich die Kosten für Mieten und Immobilien stark erhöht. Deutschlandweit muß laut einer Studie des Sozialverbands Deutschland (SoVD) rund die Hälfte der Mieterhaushalte fast ein Drittel ihres Nettoeinkommens für Kaltmiete und Nebenkosten aufwenden. [3]

Zwar vermieden die meisten Menschen, Mietschulden anzuhäufen, weil sie dann schlimmstenfalls ihre Wohnung verlieren könnten, doch bleibe ihnen dann spürbar weniger Geld für andere Zwecke übrig. Schon kleine unerwartete Ausgaben könnten dann in den Schuldenstreß führen, so Creditreform-Geschäftsführer Ralf Zirbes. [4] Gerade für Familien und insbesondere für Alleinerziehende wie auch ältere Menschen schaffe der angespannte Wohnungsmarkt eine gefährliche Situation, warnt die Wirtschaftsauskunftei. Auch müßten viele Studierende wegen der hohen Wohnkosten zusätzlich arbeiten gehen und deshalb länger studieren als geplant. Die dadurch entstehenden Mehrkosten und Schulden begleiteten sie nach Ende des Studiums.

Wer sich darauf verlege, Wohneigentum zu erwerben, müsse angesichts steigender Kaufpreise für Immobilien in den Städten immer höhere Kreditsummen aufnehmen, die für Normalverdiener und junge Familien kaum mehr zu finanzieren seien. Sollten die Zinsen in den nächsten Jahren steigen, aber Immobilien nicht mehr stark an Wert gewinnen, könnte die Zahl der Überschuldungsfälle auch aus diesem Grund in näherer Zukunft merklich ansteigen.

Die regionalen Unterschiede sind nach wie vor gewaltig, wobei Bremen mit knapp 14 Prozent die höchste Überschuldungsquote unter den Bundesländern verzeichnet. Darauf folgen Sachsen-Anhalt und Berlin. Am geringsten fällt die Überschuldung weiterhin in Bayern (7,43 Prozent) und Baden-Württemberg (8,31 Prozent) aus. Während die Quote im bayerischen Landkreis Eichstätt gerade einmal bei 3,85 Prozent lag, war sie in Bremerhaven mit gut 21 Prozent mehr als fünfmal so hoch. [5] Das eigentliche "Sorgenkind" sei aber die Region um das Ruhrgebiet, betonten die Experten. Die Überschuldungsquoten seien in vielen Städten des Reviers sowohl im Jahres- als auch im Langzeitvergleich zum Teil deutlich gestiegen.

Zunehmende Armut und Wohnungsnot sind das Ergebnis einer jahrzehntelangen Politik der Privatisierung und Umverteilung, an denen alle Parteien in Regierungsverantwortung beteiligt waren. Der Staat hat sich seit den 1990er Jahren zunehmend aus dem sozialen Wohnungsbau zurückgezogen, Häuser und Grundstücke in öffentlicher Hand wurden privatisiert und die Subventionen für Sozialwohnungen gestrichen. Da jährlich etwa 100.000 weitere Sozialwohnungen aus der Sozialbindung herausfallen, fehlen Schätzungen zufolge schon heute über 1,9 Millionen bezahlbare Wohnungen in den Großstädten. Der überwiegende Teil der kommunalen Wohnungen wurde an private Finanzinvestoren verkauft, deren Geschäftsmodell auf maximale Rendite abzielt. Sie sanierten die Wohnungen notdürftig, erhöhten die Mieten und verkauften sie dann gewinnbringend weiter. Zwangsläufige Folge sind sprunghaft steigende Quadratmeterpreise, unerschwinglich für zahllose weniger betuchte Menschen, die dringend eine Wohnung suchen. [6]

Angesichts der sich eintrübenden Konjunktur fällt die Prognose von Creditreform eher pessimistisch aus. Alles in allem sei damit zu rechnen, daß das Überschuldungsrisiko für die deutschen Verbraucher kurz- und mittelfristig weiter steigen werde, heißt es in der Studie. Verwelkt die Scheinblüte konjunkturellen Aufschwungs, läßt sich die Diagnose nicht länger verdrängen, daß die Therapie hoffnungsvoller Botschaften nichts weiter als bloße Kosmetik am schwerkranken Patienten war.


Fußnoten:

[1] www.sueddeutsche.de/wirtschaft/ueberschuldung-immobilien-1.4208768

[2] www.n-tv.de/wirtschaft/Sieben-Millionen-Deutsche-sind-ueberschuldet-article20720367.html

[3] www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/schuldneratlas-2018-steigende-mieten-fuehren-zu-mehr-ueberschuldung-a-1238223.html

[4] www.handelsblatt.com/finanzen/vorsorge/altersvorsorge-sparen/schuldneratlas-2018-immer-mehr-buerger-sind-ueberschuldet-welche-gruppen-besonders-betroffen-sind/23626810.html

[5] www.jungewelt.de/artikel/343500.wie-man-über-die-runden-kommt-wer-s-hat-hat-s-gut.html

[6] www.wsws.org/de/articles/2018/11/12/wohn-n12.html

14. November 2018


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