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RAUB/1182: Gebremste Konjunktur - armes Deutschland ... (SB)



Zwei Parallelwelten in Deutschland: 30 Prozent der Erwerbslosen können sich nicht regelmäßig eine vollwertige Mahlzeit leisten. Daimler-Chef Zetsche kassiert ab 2020 pro Tag 4.250 Euro Rente. Der Sozialstaat ist Verfassungsauftrag. Die Politik muss endlich handeln.
Dietmar Bartsch (Co-Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag) [1]

Wenngleich außer Frage steht, daß zahlreiche Menschen in Deutschland unter Armut leiden, die ihr Dasein zur Drangsal macht und ihr Leben verkürzt, ist Aufklärung über soziale Grausamkeiten ein unverzichtbarer, aber keineswegs hinreichender Ansatz, dem Übel den Kampf anzusagen. Ausbeutung und Verelendung erheblicher Teile der Gesellschaft sind kein Kollateralschaden kapitalistischer Verwertung, Profitmaximierung und Krisenstrategie, sondern deren Voraussetzung. Ob maßlose Bereicherung der einheimischen Eliten, Exportstärke oder Hegemonialstreben in Europa, Kern dieses Komplexes bleibt die durch Hartz-Gesetze und Agendapolitik beflügelte ökonomische Dominanz der Bundesrepublik, erkauft mit der Zurichtung der lohnabhängig Beschäftigten und Ausgegrenzten. Diese Konstruktion ist insofern nicht reformierbar, als es sich um die tragenden Wände des deutschen Hauses handelt. Dessen Stärke resultiert aus der Vorreiterschaft in der Durchsetzung des Prinzips, die Ungleichheit im eigenen Land wie auch in der Konkurrenz der Staaten auszunutzen und zu verschärfen. Diese parasitäre Existenzweise, weite Teile der Bevölkerung auszusaugen, die europäischen Nachbarn niederzukonkurrieren und Volkswirtschaften auf anderen Kontinenten zu ruinieren, hat für einen relativen Wohlstand gesorgt, von dem jedoch zwangsläufig beträchtliche Teile der Bevölkerung abgeschnitten sind.

Dies zu ändern ist letzten Endes keine Frage der Information oder des moralischen Appells, sondern der Macht, den eigenen Interessen zur Durchsetzung zu verhelfen. Das weiß niemand besser als Jens Spahn, der im letzten März gewissermaßen das politische Unwort des Jahres 2018 geprägt hatte: "Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut." Damals wechselte der ambitionierte CDU-Politiker gerade von seinem Posten als Staatssekretär im Finanzministerium auf den des Gesundheitsministers und setzte bei dieser Gelegenheit seine Duftmarke in Sachen Klassengesellschaft. Ich beanspruche die Deutungsmacht und erkläre die Armut durch Hartz IV für nichtexistent, so seine ideologische Absage an jegliche Kritik, die auf Abschaffung dieses Zwangsverhältnisses drängt.

Wissen Spahn und Konsorten nichts von den Schlangen vor den Tafeln oder von Grundschulen, in denen die Hälfte der Kinder hungrig zum Unterricht kommt? Sollten ihnen Wohnungsnot, Hetze in Billigjobs, Elend und Entwürdigung entgangen sein? Natürlich nicht, sind sie doch politische Karrieristen genug, um zu erkennen und durchzusetzen, was ihre persönlichen Privilegien mehrt und die Macht ihrer Klasse festigt. Sie brauchen und wollen dieses Zwangsregime aus Sozialabbau und Arbeitsdruck, Sanktionen und Angst, das die Löhne senkt und für Friedhofsruhe sorgt. Sie reiten die menschlichen Arbeitstiere zu Schanden, um Herren zu bleiben, ihre Teller und Taschen zu füllen, allen Widerstand zu brechen.

Wen wundert's noch zu hören, daß fast jeder dritte Erwerbslose in Deutschland nicht genug Geld hat, um sich wenigstens jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit zu leisten? Das sind mehr als fünf Millionen Menschen ab 16 Jahren, von der Kinderarmut ganz zu schweigen. Wen rührt's, daß sich 2017 etwa 21 Millionen Deutsche nicht in der Lage sahen, unerwartete Ausgaben in Höhe von 1000 Euro zu stemmen? Damit wird jede größere Reparatur oder ein dringend benötigtes Haushaltsgerät zum kaum lösbaren Problemfall. [2] Fast 16 Prozent der Haushalte fehlte darüber hinaus nach eigenen Angaben Geld, um jährlich eine Woche außerhalb der eigenen vier Wände Urlaub zu machen. Bei den Arbeitslosen galt dies sogar für mehr als die Hälfte, und etwa 15 Prozent von ihnen hatten Probleme, Miete und Rechnungen zu bezahlen oder ihre Wohnung angemessen zu heizen. Die Zahlen stammen aus der EU-Datenbank SILC, die das Statistische Bundesamt auf Anfrage der Linksfraktion im Bundestag ausgewertet hat, und beruhen auf der Selbsteinschätzung der befragten Haushalte. [3]

In Deutschland beziehen etwa drei Millionen Haushalte Hartz IV, von Armut bedroht sind dem Statistischen Bundesamt zufolge sogar über 15 Millionen Menschen. Die Tafeln versorgen etwa 1,5 Millionen Menschen mit Lebensmitteln und beklagen seit Jahren ihre zunehmende Überlastung. Von persönlichen Schicksalen oder gar selbstverursachter Not kann keine Rede sein. Dabei ist Armut in der EU ein klar definierter Zustand. Wer weniger als 60 Prozent des nationalen mittleren Einkommens zur Verfügung hat, gilt als armutsgefährdet oder arm. Die Regelsätze des Arbeitslosengelds II, im Volksmund Hartz IV, liegen unterhalb dieser Grenze. Außerdem sind seit den Reformen viele Menschen in Billigjobs und prekäre Anstellungen des größten Niedriglohnsektors Europas gezwungen worden, dessen sich Gerhard Schröder einst rühmte. [4]

Die durchschnittliche Lebenserwartung klafft zwischen den ärmsten und den reichsten Bevölkerungsteilen in Deutschland mittlerweile bei Frauen um acht und bei Männern um zehn Jahre auseinander. Soweit man dennoch davon sprechen kann, daß es möglich sei, mit Hartz IV zu überleben, sind die darüber hinausgehenden Wege zur sozialen Teilhabe versperrt. Hinzu kommt der geringe gesellschaftliche Status und die permanente Bezichtigung seitens des Jobcenters, sich des Sozialbetrugs schuldig zu machen. Mögen die Zug um Zug verschärften Sanktionen auch wie groteske Strafexzesse eines sadistischen Unterwerfungsregimes anmuten, hat ihre administrative Kälte doch System. Hartz IV soll nicht nur Leistungen kürzen, sondern einen umfassenden Arbeitszwang durchsetzen und jeglichem Widerstandsgeist das Wasser abgraben.

Die Sozialexpertin der Linkspartei Sabine Zimmermann spricht von alarmierenden Zahlen: "Armut ist in Deutschland kein Randphänomen, sondern zieht sich quer durch die Bevölkerung. Was für viele selbstverständlich ist, ist für eine große Gruppe von Menschen unbezahlbar." Zimmermann fordert von der Bundesregierung "ein umfassendes Konzept zur Armutsbekämpfung". Dazu gehöre ein Mindestlohn von zwölf Euro, die Streichung der sachgrundlosen Befristung sowie die Aufhebung der Sanktionen für Hartz-IV-Bezieher. Zudem solle das Rentenniveau auf 53 Prozent angehoben werden.

Die soziale Spaltung frißt sich immer tiefer ins gesellschaftliche Gefüge und dürfte die nächsten Wahlkämpfe prägen. Die jüngsten Wahlen haben gezeigt, daß die AfD vor allem in sozialen Brennpunkten gewann, in denen Menschen in Armut leben, während um sie herum die Wirtschaft brummt, Mieten steigen, Preise anziehen. Die Kontroverse um Hartz IV gleicht einer Schicksalsdebatte für die SPD, deren Kanzler Schröder einst der Bauherr dieses tiefsten und nachhaltigsten Einschnitts in den Sozialstaat war. SPD-Sozialminister Hubertus Heil schwadroniert von einem neuen sozialen Arbeitsmarkt, während die Parteivorsitzende Andrea Nahles von einer Abschaffung von Hartz IV nichts mehr wissen will. Dies fordern neben der Linkspartei auch die Grünen, ein höherer Mindestlohn ist parteiübergreifend im Gespräch.

Unterdessen rechnet die Bundesregierung in diesem Jahr nur noch mit einem Wirtschaftswachstum von 1,0 Prozent. Damit senkt die Regierung ihre Erwartungen an das Bruttoinlandsprodukt deutlich, da sie in ihrer Herbstprognose noch von 1,8 Prozent Wachstum ausgegangen war. Nach einem Anstieg von 2,2 Prozent für 2017 und 1,5 Prozent im vergangenen Jahr scheint sich die längste ununterbrochene Wachstumsphase seit 1966 ihrem Ende zuzuneigen. Wirtschaftsminister Peter Altmaier machte bei der Vorstellung des Jahreswirtschaftsberichts vor allem den zunehmenden "Gegenwind" aus dem außenwirtschaftlichen Umfeld für die schwächere Prognose verantwortlich. Dazu gehörten der anstehende Brexit und die anhaltenden Handelskonflikte ebenso wie das internationale steuerpolitische Umfeld.

Dennoch versichert der Wirtschaftsminister, das Wachstum habe sich zwar "verlangsamt", aber die Bundesrepublik befinde sich nach wie vor im Aufschwung. "Die guten Jahre können weitergehen, wenn wir klug und umsichtig handeln", verkündet Altmaier und schlägt zu diesem Zweck Milliardenentlastungen vor allem für Unternehmen vor. Man müsse den Fokus auf "Wachstumsimpulse und Zukunftstechnologien" lenken und Unternehmen zu Investitionen ermutigen, auch sollten Planungen beschleunigt und bürokratische Hürden abgebaut werden. Mit ihrer Prognose setzt sich die Bundesregierung an die Spitze der Konjunkturpessimisten, da alle großen Forschungsinstitute bisher mit einem kräftigeren Zuwachs gerechnet hatten. "Ich halte das für Zweckpessimismus der Bundesregierung", so der Direktor des gewerkschaftsnahen IMK-Instituts, Gustav Horn. "Denn sie will im Laufe diesen Jahres sagen, dass alles viel besser gelaufen ist als zunächst erwartet, vor allem dank ihrer Bemühungen in einem schwierigen außenwirtschaftlichen Umfeld." Die konjunkturelle Dynamik sei noch intakt und werde insbesondere vom privaten Konsum getragen. [5]

Das klingt nach lautem Pfeifen im finsteren Wald und läßt Schlimmstes befürchten. Millionen von Menschen, an denen Altmaiers "gute Jahre" spurlos vorübergegangen sind, weil sie dafür mit ihrer Arbeitskraft in prekären Jobs und unter dem Hartz-IV-Regime bezahlt haben, würde eine Rezession um so mehr ins Verderben stürzen, in der selbst eine geringfügige Umverteilung von oben nach unten kein Thema mehr wäre.


Fußnoten:

[1] deutsch.rt.com/inland/83390-armut-in-deutschland-jeder-dritte-arbeitslose/

[2] www.sueddeutsche.de/wirtschaft/arbeitslose-umfrage-ernaehrung-1.4309043

[3] www.tagesschau.de/inland/arbeitslos-essen-101.html

[4] www.sueddeutsche.de/politik/armut-und-hartz-iv-das-gefuehl-staatlicher-kaelte-ausgesetzt-zu-sein-1.4266874-2

[5] www.tagesschau.de/wirtschaft/wachstumsprognose-wirtschaft-101.html

31. Januar 2019


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