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RAUB/1189: Wohnraum - wenn die Eigentumsfrage gestellt wird ... (SB)



Enteignungen sind nun wirklich sozialistische Ideen und haben mit bürgerlicher Politik nichts zu tun. Wer das Eigentum nicht mehr respektiert, ändert unsere Gesellschaft von Grund auf.
Der CSU-Vorsitzende Markus Söder zu Robert Habecks Gedankenspiel [1]

"Knapp 30 Jahre nach dem Fall der Mauer wird die Karl-Marx-Allee so zum Pionier der Wiedereinführung des Sozialismus. Es lebe die Revolution." Das schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die nach einer Umfrage entsetzt feststellen mußte, daß eine Mehrheit der Befragten der Forderung nach Enteignung von Immobilienunternehmen zugestimmt hatte. [2] Wenngleich nur wenigen in allen Aspekten klar sein dürfte, was genau mit "Enteignung" in diesem Zusammenhang gemeint ist und was explizit nicht, wird doch eines offenkundig: Der gravierende Mangel an bezahlbarem Wohnraum macht so vielen Menschen zu schaffen, daß dies als eine der wichtigsten sozialen Fragen empfunden wird, die nach bislang gemiedenen Lösungen drängen. Selbst ein so erfolgreich tabuisierter Begriff wie "Enteignung" löst heute bei wachsenden Teilen der Gesellschaft keinen automatischen Abwehrreflex mehr aus.

Das mag die heftige und teils erbittert geführte Kontroverse erklären, die von den politischen Parteien seit Tagen auf allen Kanälen geführt wird. Den Anstoß hat das Berliner Bündnis "Deutsche Wohnen und Co. enteignen" gegeben, das mit einem Volksentscheid die Enteignung privater Unternehmen herbeiführen will, die mehr als 3.000 Wohnungen besitzen. Im Fokus steht die Immobilienfirma Deutsche Wohnen, der rund 160.000 Wohnungen im Bundesgebiet, davon fast 112.000 in Berlin gehören. In einer vielbeachteten Stellungnahme erklärte der Vorsitzende der Grünen, Robert Habeck, er könne sich unter bestimmten Bedingungen die Enteignung großer Wohnungskonzerne vorstellen. Zeigten andere Maßnahmen keinen Erfolg, um für ausreichend günstigen Wohnraum zu sorgen, müsse notfalls die Enteignung folgen. Das Grundgesetz sehe solche Enteignungen zugunsten des Allgemeinwohls grundsätzlich vor. Es wäre doch absurd, das nur anzuwenden, um neue Autobahnen zu bauen, aber nicht, um gegen die grassierende Wohnungsnot vorzugehen.

Dem entgegnete der FDP-Vorsitzende Christian Lindner in einem durch und durch marktliberalen Credo, die Debatte über Enteignungen großer Wohnungsbauunternehmen verschrecke Investoren. Habeck nutze eine "brandgefährliche Klassenkampfrhetorik, mit der man den Rechtsstaat beschädige". Der Wohnungsmarkt zeige nur die Knappheit an, die politisch verursacht worden sei. Wie Lindner weiter argumentierte, wäre viel gewonnen, würde der Staat schneller Bauanträge genehmigen, mehr Bauland freigeben und Dächer ausbauen lassen. Oft seien es Linke und Grüne, die das wie in Berlin bremsten. Die staatlichen Bauvorgaben würden immer schärfer, und die Grundsteuer steige. Betroffen von einer Enteignung von Wohnungen "wären nicht anonyme Spekulanten, sondern alle, die private Vorsorge betreiben, weil zum Beispiel viele Versicherungen in Wohnungen anlegen", so Lindner.

Nicht minder scharf kritisierte der CSU-Vorsitzende Markus Söder die Gedankenspiele Habecks: "Enteignungen sind nun wirklich sozialistische Ideen und haben mit bürgerlicher Politik nichts zu tun. Wer das Eigentum nicht mehr respektiert, ändert unsere Gesellschaft von Grund auf." Habecks Vorstoß beweise, daß die Grünen im Kern doch eine linke Partei seien. Ins selbe Horn stieß die Bundeskanzlerin: Sie halte "die Enteignung von Wohnungskonzernen nicht für ein geeignetes Mittel zur Linderung der Wohnungsnot", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Der Schlüssel für bezahlbaren Wohnraum sei, eine ausreichende Zahl von Wohnungen zur Verfügung zu haben. Dafür sehe der Koalitionsvertrag eine Vielzahl von Maßnahmen vor. Es sei der Kanzlerin und der gesamten Bundesregierung sehr bewußt, daß der Bedarf an bezahlbarem Wohnraum "ein großes Thema für die Menschen ist" und daß Mieten und Immobilienpreise gerade für Bezieher unterer und mittlerer Einkommen eine Belastung darstellten. Die Antwort darauf sei aber nicht Enteignung, betonte Seibert.

Worum es in dieser parteipolitischen Kontroverse in erster Linie geht, brachte Katja Kipping auf den Punkt. Die Debatte über das Thema sei "aussagekräftiger als jedes Wahlprogramm". "Wer günstigen Wohnraum will und bereit ist, sich mit den Immobilienkonzernen anzulegen, der wird in Union, FDP und AfD die härtesten Gegner finden", sagte die Vorsitzende der Linken. Die Wohnungsfrage sei mitentscheidend nicht nur in den bevorstehenden Landtagswahlkämpfen, sondern stelle bereits die Weichen für den kommenden Bundestagswahlkampf. Die Grünen sieht sie vor der Entscheidung, ob sie "eine Wohlfühlpartei mit großen Überschriften im Schoß der marktradikalen Union werden wollen" oder ob sie mit der Linken und der SPD die sozialen Mißstände an der Wurzel lösen möchten. [3]

Wie das mit den Sozialdemokraten möglich sein sollte, bleibt jedoch ebenso ihr Geheimnis wie die Reichweite entschiedener Forderungen ihrer eigenen Partei. "Es geht nicht um entschädigungsloses Enteignen", betonte denn auch der Co-Vorsitzende Bernd Riexinger. Enteignungen könnten nur auf gesetzlichem Wege und gegen Entschädigungszahlungen erfolgen. Schwebt der Linken tatsächlich vor, dieselben Wohnungen, die sie zwischen 2001 und 2011 als Mitglied des Berliner Wowereit-Senats an Spekulanten mitverscherbelt hat, für eine immense Summe zurückzukaufen?

Erinnern wir uns: Vor 15 Jahren wollte Berlin die landeseigene GSW-Gruppe mit rund 65.700 Wohnungen loswerden. Der rot-rote Senat unter Klaus Wowereit und dem damaligen Finanzsenator Tilo Sarrazin verkaufte sie für 405 Millionen Euro, im Schnitt lächerliche 8000 Euro pro Wohnung. Der Marktwert des inzwischen auf über 111.000 Wohnungen angewachsenen Berliner Bestandes von Deutsche Wohnen, bei der die GSW 2013 landete, lag 2018 bei 23,2 Milliarden Euro. [4] Sollte die Enteignungsinitiative Erfolg haben, rechnet der Senat mit Entschädigungen um die 30 Milliarden Euro. Das entspricht einem Jahreshaushalt des Landes Berlin. Diese gewaltige Summe soll samt Zinsen aus den Mieteinnahmen zurückgezahlt, also auf die Mieten umgelegt werden. Zusätzlich wären zwei bis vier Milliarden Eigenkapital notwendig, die dann im Haushalt für dringend benötigte Sozial- und Infrastrukturausgaben fehlten.

Sarrazin verteidigt heute noch die damalige Entscheidung, die man aus der Zeit verstehen müsse. Alle sechs Wohnungsbaugesellschaften der Stadt seien in einem fürchterlichen Zustand, nicht ausreichend saniert und am Rande der Verschuldung gewesen. Er habe 2002 ein laufendes Verkaufsverfahren der GSW zunächst gestoppt, 2003 wieder aufgenommen, weil sich die Nachfrage belebte, und für damalige Verhältnisse einen guten Kaufpreis erzielt. Für die Mieter habe sich ja gar nichts geändert, behauptet er dreist. Die heutige Situation am Berliner Markt liege zum großen Teil daran, daß der Senat seit Jahren versäumt habe, bauen zu lassen. Auch Wowereit verteidigt die Verkaufsentscheidung: "Aus der damaligen Zeit war es zu rechtfertigen: Denn Berlin hatte einen riesigen Wohnungsleerstand (rund 150.000) und die Bevölkerungsprognosen gingen nicht von einem Zuwachs aus." Heute würde man es nicht mehr machen, räumt er immerhin ein. Von Enteignungen hält er nichts. In erster Linie müsse gebaut und die Instrumentarien zur Eindämmung ungerechtfertigter Mietsteigerungen sollten konsequent genutzt werden. Wowereits Nachfolger als Regierender Bürgermeister, Michael Müller, der damals SPD-Fraktionschef war, hat den Verkauf inzwischen als Fehler bezeichnet. [5]

Vor einem Jahr fand in Berlin schon einmal eine Großdemonstration von 25.000 Menschen gegen dramatisch steigende Mieten statt. Seither hat sich die Lage weiter verschärft, denn immer mehr Wohnungen werden von Investoren aufgekauft, die die Mieten erhöhen und Menschen aus ihren Wohnungen vertreiben. Daß nun allein in der Hauptstadt bis zu 40.000 Demonstrierende unter dem Motto "Gemeinsam gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn" auf die Straße gegangen sind, zeugt von wachsendem Widerstand. Die dieser Tage vielzitierte "Enteignung" im Sinne des noch nie angewendeten Artikels 15 des Grundgesetzes kann indessen angesichts der dabei vorgesehenen Entschädigung nicht mehr als ein zahnloser Tiger sein. Wenngleich die Lindners und Söders von Klassenkampfrhetorik und Sozialismus faseln, als sei dies der Inbegriff absurder und verwerflicher Geisteshaltung, steht bislang keineswegs eine entschädigungslose Enteignung von Miethaien wie Deutsche Wohnen, Vonovia, ADO Propperties, TAG Immobilien, Franell Consulting und anderen zur Diskussion. Sollte ihr Bestand tatsächlich rekommunalisiert werden, würde die hohe Entschädigungssumme deren profitables Verwertungsverfahren nicht beenden, sondern geradezu als Erfolgsmodell bekräftigen. Die Eigentumsfrage eröffnet die Fronten - aber nur dann, wenn sie aufrechterhalten wird.


Fußnoten:

[1] www.merkur.de/politik/enteignungs-debatte-lindner-geht-auf-habeck-los-brandgefaehrliche-klassenkampf-rhetorik-12142124.html

[2] www.wsws.org/de/articles/2019/04/06/miet-a06.html

[3] www.welt.de/politik/deutschland/article191644465/Enteignung-Christian-Lindner-rechnet-mit-Habeck-und-den-Gruenen-ab.html

[4] www.jungewelt.de/artikel/352665.nüchtern-bleiben.html

[5] www.bild.de/politik/inland/politik-inland/enteignungs-debatte-warum-sarrazin-und-wowereit-berlins-wohnungen-verkauften-61147500.bild.html

10. April 2019


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