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RAUB/1190: Tierlabel - faule Kompromisse ... (SB)



Panisches Gezeter in Legebatterien, verängstigte Blicke im Schweinestall - die Empörung darüber bahnt sich in Medien, Bestsellerlisten und Petitionen immer wieder Bahn. Seit der Verbreitung von industriellen Tierhaltungsformen in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts schwillt die Empörung regelmäßig an, um sich dann wieder zurückzuziehen. Für Agrarpolitiker, Agrarfunktionäre und die Agrarindustrie scheint diese Welle dennoch bedrohlich zu sein. Ihr Argument: Es sind Emotionen am Werk. Und wo Emotionen seien, da seien eine verzerrte Realität und Populismus, Diffamierung und Ideologie nicht weit. Die Lösung heißt also: sachlich bleiben.
Philipp von Gall - Sachlichkeit und Ethik [1]

Die Bilder verstören. Anzuschauen, was die Tierrechtsorganisation SOKO Tierschutz im aktuellen Fall eines Schlachthofes in Niedersachsen mit versteckten Kameras aufgezeichnet hat [2], könnte empfindsameren Gemütern nicht nur den Appetit auf Milch und Fleisch verderben, sondern Ohnmachtsempfindungen von schwer abschätzbarer Folgewirkung auslösen. You Tube versteckt das Video vorsorglich hinter einer Schranke, die nur durch persönliche Anmeldung mit Altersangabe zu überwinden ist. Viele für Jugendliche frei zugängliche Blockbuster warten mit grausamen Szenen auf, aber das Leid zur finalen Schlachtung geschleifter Milchkühe soll ihnen doch lieber vorenthalten werden.

Daß Menschen das Fleisch bei Anlieferung an den Schlachthof halbtoter und schwer verletzter Kühe ohne ihr Wissen zugemutet wird, ist das kleinere Problem. Mit etwas Interesse am Thema sogenannter Milchviehhaltung ließe sich alles herausfinden, was daran inakzeptabel und bekämpfenswert ist. Die wiederholten Zusicherungen der Berufsverbände der Agrarindustrie, daß es sich bei den von dieser wie anderen Tierschutzorganisationen aufgedeckten Verstößen gegen das Tierschutzgesetz um bloße Einzelfälle handelte, die für die bäuerliche Tierhaltung nicht repräsentativ seien, werden durch die unter dem Titel "Das Schicksal der Downer-Kühe" öffentlich gemachten Rechercheergebnisse der SOKO Tierschutz so unglaubwürdig, daß Reputationsverluste nicht ausbleiben können. Das gilt auch für die unzureichende veterinärmedizinische Beaufsichtigung und staatliche Überwachung der Schlachthöfe.

Die nach jahrelanger Milchproduktion unter züchterischen Hochleistungsbedingungen, mit denen das weibliche Rind in eine biologische Maschine zur Milcherzeugung verwandelt wird, im Wortsinne ausgelaugten Tiere werden am Ende der kurzen Zeit, in der sie ihre Aufgabe als sogenanntes Milchvieh erfüllt haben, noch schnell in den Schlachthof gekarrt, um ihren Körpern finalen Wert in der Fleischproduktion abzupressen. Welchen physischen Belastungen diese Kühe ausgesetzt werden, wenn ihr Herz-Kreislauf-Systeme bis zu 25.000 Liter Blut durch den Euter pumpen muß, um auf eine Tagesmilchleistung von 20, 30 oder mehr Litern zu gelangen, ist schon daran zu erkennen, daß sie meist nicht mehr als 3 Laktationsphasen durchhalten. Dreimal künstlich geschwängert - um nicht zu sagen zuchttechnisch vergewaltigt -, drei Kälber zur Welt gebracht, die sie in der Regel nicht aufziehen dürfen, da diesen häufig ein auf wenige Monate befristetes Leben in der Kälbermast zugedacht ist, bevor sie auf der Fleischtheke als besonders zarte Delikatesse enden - die fabrikmäßige Reproduktion der Milch- und Fleischrinder könnte einem Horrorfilm entsprungen sein, der an Aussichts- und Hoffnungslosigkeit kaum zu überbieten ist.

Der traurige Normalfall einer sogenannten Milchkuh, die bei nachlassender Leistungsfähigkeit im Schlachthof endet, wird durch die pekuniären Motiven geschuldete Maßnahme, bereits am Ende ihrer Kräfte angelangte Tiere noch gewaltsam zum Schlachthof zu befördern, erst recht in den Schatten tierlicher Qualen gerückt. Zu schwach, um sich noch auf den Beinen zu halten, aus anderen Krankheitsgründen nicht mehr für die Milchproduktion verwendbar oder mit gebrochenen Gliedern schwer verletzt am Boden liegend, werden sie an eine Seilwinde gekettet und unter Schlägen auf den Viehtransporter geschleift, um im Schlachthof unter dementsprechend qualvollen Bedingungen zu sterben.


"Tierwohl" als Handelsware

Um der Übelkeit, die sich auch bei robusteren Gemütern einstellen kann, wenn sie immer wieder mit der Grausamkeit der Intensivtierhaltung konfrontiert werden, vorzubeugen, haben die großen Einzelhandelsunternehmen mit dem Label "Haltungsform" eine gemeinsame Transparenzoffensive gestartet. Unter vier farblich unterschiedenen Stufen können die KundInnen künftig wählen, welches Ausmaß an Schmerzen sie ihrem Nahrungsmittel zu Lebzeiten zumuten. "Stallhaltung", "Stallhaltung Plus", "Aussenklima", "Premium" - die Unterschiede zwischen den damit bezeichneten Haltungsformen betreffen vor allem den Bewegungsraum, der dem jeweiligen Schlachttier zugestanden wird, aber auch andere Erleichterungen seines Loses wie etwa die Verfügbarkeit sogenannten Beschäftigungsmaterials, bessere Atemluft oder sogar Zugang zu Freigelände.

Was sich von der Grundlinie des gesetzlich vorgeschriebenen Minimums an tierhalterischer Notwendigkeit in diesem Sinne positiv abhebt, stellt allein dadurch, daß es sich als Verkaufsargument eignet, klar, daß die gesetzlichen Bedingungen der Tierhaltung allemal verbesserungswürdig sind. Im Universum konsumistischer Verheißungen mag das Etikett "Premium" beste Qualität suggerieren, doch wird selbst damit weder eine Aussage über die Lebensdauer des jeweiligen Tieres noch seine Gesundheit getroffen.

Wie es der Professor für Tierernährung und Tiergesundheit an der Universität Kassel, Albert Sundrum, in einer Sendung des 3sat-Magazins makro [3] ausdrückt, geht es bei dem neuen Label nicht um Tierschutz, sondern um Haltungsverfahren. Ersteres wäre der Schutz vor Schmerzen, Leiden und Schäden, insbesondere auch der Schutz vor Erkrankungen. Sundrum nennt es eine "naive Analogie", wenn man Einzelaspekte miteinander vergleicht und generalisiert, als ob einem Krankenhauspatienten mit Lungenentzündung durch ein um 30 Zentimeter breiteres Bett weitergeholfen werde. Er fordert einen evidenzbasierten Tierschutz, bei dem der konkrete Nachweis über den jeweiligen Zustand der Tiere erbracht wird, und die Unterscheidung von in diesem Sinne guten und schlechten Betrieben, die auch für den Endkunden transparent gemacht wird.

Selbst dort, wo nach den Kriterien der ökologischen Landwirtschaft gearbeitet wird, ist keineswegs sichergestellt, daß die Tiere zu Lebzeiten nicht unter schmerzhaften Erkrankungen oder anderen gesundheitlichen Einschränkungen gelitten haben [4]. Das preislich weit über Discounterniveau liegende Biofleisch mag über qualitative Vorteile hinsichtlich der eingesetzten Futtermittel und einem dementsprechend geringeren Gehalt an Umweltgiften verfügen. Eine definitive Verbesserung im Sinne sogenannten Tierwohls ist zumindest nicht ohne weiteres gegeben. Die dabei zur Geltung gelangenden Erkenntnisse der Nutztierethologie und Verhaltensbiologie sind im Rahmen sogenannter Nutztierhaltung entstanden und reflektieren mithin den Objektcharakter des Mensch-Tier-Verhältnisses. So erwirtschaftete Normen für artgerechte Tierhaltung sind zumindest vom Standpunkt dessen, für den nur die Freiheit artgerecht sein kann, kritikwürdig.


Klassenverhältnisse zwischen Teller und Stall

Der betriebswirtschaftliche Mehraufwand einer Tierhaltung, die über die Standards der behördlichen Tierschutzverordnungen hinausgehen, ist mithin ein in Euro und Cent zu Buche schlagendes Verkaufsargument, das auf der Kommodifizierung der den betroffenen Tieren angetanen Schmerzen basiert. Im Regelfall sogenannten Nutztieren bereitete Einschränkungen und Qualen mit einem höheren Preis zu begleichen macht aus einer Unterlassung eine Handelsware namens Tierwohl. Nach dem subjektiven Interesse der Betroffenen wird nicht gefragt, in der Nutzenratio des Menschen sind sie bloße Objekte und Produktionsmittel wie andere auch. Selbstverständlich entschiede sich, wer die Wahl hätte, dafür, seinen Nachwuchs in Ruhe aufzuziehen und ein langes Leben in der Freiheit einer Natur zu führen, die es unter anderem deshalb nicht mehr gibt, weil die Ausbeutung der Tiere die natürlichen Grundlagen des Lebens selbst bedrohende Formen angenommen hat.

Wie die Kühe, die tagelang nach ihren Kälbern schreien, wenn diese sich schon auf einem Tiertransport in ein anderes Land oder in einem Kälbermaststall befinden, oder die Rinder, die vor der Schlachtung alle gegen ihren Widerstand errichteten Hindernisse überwinden und das Weite suchen, beweisen, ist die Subjektivität sogenannter Nutztiere nicht weniger von Hoffnungen und Wünschen, von Qualen und Nöten bestimmt als die der menschlichen Tiere. Sein Geschäft mit der Ware relativer Schmerzlinderung in einer sozial extrem polarisierten Gesellschaft zu machen heißt denn auch, den universalen Charakter der vermeintlichen Selbstverständlichkeit, leidensfähigen Lebewesen so weit wie irgend möglich vor Schmerzen zu schützen, als Klassenprivileg teil- und verhandelbar zu machen. Wer es sich leisten kann, kauft Stufe 4 "Haltungsform. Premium", wer jeden Cent umdrehen muß, ist mit Stufe 1 "Haltungsform: Stallhaltung" genötigt, keine Rücksicht auf die Empfindungsfähigkeit seines Nahrungsmittels zu nehmen. Da bleibt eigentlich nur noch die Wahl, keinen Gedanken an das sogenannte Nutzvieh zu verschwenden oder es gar nicht erst zu sich zu nehmen.

Treibt man die Logik des konsumethisch verklärten Klassenwiderspruches ein wenig weiter, dann könnte die Armutsbevölkerung zu der Erkenntnis gelangen, daß die eigenen Haltungsbedingungen in der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft nicht vor Verschlechterungen gefeit sind, wie sie in der sozialkämpferischen Rhetorik mit Vergleichen zu den Lebensbedingungen sogenannter Nutztiere beschrieben werden. So ehern die speziesistische Schranke im Mensch-Tier-Verhältnis erscheint, so durchlässig erweist sie sich bei der sozialen Verelendung für gesellschaftliche Verwertungszwecke überflüssig gemachter Menschen oder dem systematischen Verhungernlassen ganzer Bevölkerungen in imperialistischen Kriegen. Im US-Strafvollzug etwa kann es geschehen, daß der einem in Isolationshaft gehaltenen Menschen gesetzlich zugestandene Bewegungsraum geringer ist als der vorgeschriebene Platz für die Käfighaltung bestimmter Haustiere. Auch wurden bei Exekutionen in den USA durch tödliche Injektionen muskellähmende Substanzen verwendet, deren Anwendung bei der Tötung von Tieren in mehreren Bundesstaaten aufgrund der Gefahr unentdeckter Leiden verboten ist.


Gesetzlicher Tierschutz technokratisch gewendet

Einzelne Beispiele für die Solidarisierung mit ausgebeuteten Tieren in der Geschichte sozialkämpferischer Bewegungen zeigen [5], daß es durchaus im Vermögen von Menschen liegt, die Gewaltlogik gesellschaftlicher Naturverhältnisse zu durchbrechen. Warum das seit 2002 in Artikel 20a des Grundgesetzes aufgenommene Staatsziel des Tierschutzes dafür keinen Anhaltspunkt bietet und bestenfalls "Tierwohl"-Euphemismen Marke Julia Klöckner hervorbringt, dafür ist neben der gesellschaftlich tief verankerten Inanspruchnahme von Tierausbeutung zur sozialen Reproduktion die höchst abstrakte Formulierung des ersten Artikels im Tierschutzgesetz verantwortlich. Mit ihr wurde die Voraussetzung dafür geschaffen, die moralisch vermeintlich hochwertigen Ziele legislativer Entscheidungen auf die prosaische Sachzwanglogik realpolitischen Vollzuges zu reduzieren.

"Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen" - der "vernünftige Grund" im BRD-Tierschutzgesetz von 1972 erlangte im NS-Tierschutzgesetz 1933 erstmals Gesetzeskraft. Wie der Agrarwissenschaftler Philipp von Gall in einem Gespräch mit Animal Climate Action (AniCA) [6] erklärt, trat der spätere Reichsjägermeister Hermann Göring dafür ein, das im Tierschutz des 19. Jahrhunderts übliche Verbot der "unnötigen" Tierquälerei dahingehend weiterzuentwickeln, daß das Fehlen eines "vernünftigen Grundes" künftig die Definition verbotener Tierquälerei darstellen solle. Göring befürchtete, daß die Norm der "unnötigen" Tierquälerei die Jagd beeinträchtigen könnte und zog daher eine abstraktere Formulierung vor.

Dennoch vertreten einige Staatsrechtler bis heute, beim Tierschutzgesetz des NS-Regimes handle es sich um einen Fortschritt, was von Gall als "fahrlässig" bezeichnet. Darüber hinaus, daß es gegen das Schächten von jüdischen Schlachtern in Stellung gebracht und so für die antisemitische Politik des Regimes instrumentalisiert wurde, stelle der darin getroffene Verweis auf die Wissenschaftlichkeit des Tierschutzes und die damit einhergehende Diffamierung engagierter TierschützerInnen als "unsachlich" und "emotional" eine deutliche Schwächung des Tierschutzes dar. Für von Gall ist die in Anspruch genommene Forderung, der Tierschutz müsse wissenschaftlich in den Erkenntnissen der Nutztierethologie und Evolutionsbiologie verankert sein, ein probates Mittel, unter Verweis auf nicht vorhandenes Wissen über art- und verhaltensgerechte Tierhaltung Praktiken gutzuheißen, die in den Augen von TierschützerInnen und TierrechtlerInnen die Interessen der Tiere mißachten. Begriffe wie "artgemäß", "verhaltensgerecht" und "Tierwohl" würden an grundsätzlichen Normen wie der Überlebensfähigkeit von Tieren ausgerichtet. Sofern diese gegeben sei, könnten sie auch ihr artgemäßes Verhalten ausleben, lautet eine von einigen VeterinärmedizinerInnen vertretene, im Kern sozialdarwinistische Position.

Da das, was als "vernünftiger Grund" für die Mißhandlung von Tieren angegeben wird, aus der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung hervorgeht, deren Inhalt vom Landwirtschaftsministerium tendentiell zugunsten der Rechtssicherheit der Agrarindustrie bestimmt wird, bleibt einiger Spielraum, um Verbotsforderungen mit dem Argument zu entkräften, es lägen nicht genügend wissenschaftliche Erkenntnisse über das "normale" Verhalten von Tieren vor. Versagt dieser Vorwand, dann kann immer noch ein möglicher ökonomischer Schaden der Gesellschaft geltend gemacht werden, um eine Güterabwägung vorzunehmen, in der der Tierschutz unterliegt. Im Endeffekt wird mit Hilfe der staatlichen Regulation des Tierschutzes vermieden, den im Mensch-Tier-Verhältnis angelegten Grundkonflikt offen beim Namen zu nennen, so daß der normative Gehalt der Tierausbeutung unangetastet bleibt.

Die neue Jugendbewegung für Klimaschutz macht vor, welcher Öffentlichkeit es bedarf, um eine gesellschaftliche Auseinandersetzung um vitale Interessenskonflikte anzustoßen. Wird dort bereits die negative Bilanz der Tierproduktion für den Klimaschutz thematisiert, dann ist der Schritt, die Tiere in ihrem Eigeninteresse an dem Erhalt der Natur und des Lebens zu würdigen, nicht mehr so groß. Ihn zu gehen ist auch erforderlich, um zu erkennen, was den Menschen in seiner Tierlichkeit selbst ausmacht.


Fußnoten:

[1] https://albert-schweitzer-stiftung.de/aktuell/sachlichkeit-und-ethik

[2] https://www.soko-tierschutz.org

[3] https://www.3sat.de/page/?source=/makro/magazin/uebersicht/199508/index.html

[4] https://www.deutschlandfunk.de/artgerechte-tierhaltung-woran-es-auf-bio-hoefen-krankt.724.de.html?dram:article_id=437594

[5] REZENSION/618: Matthias Rude - Antispeziesismus. Die Befreiung von Mensch und Tier ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar618.html

[6] https://animal-climate-action.org/de/2016/10/27/tierindustrie-und-tierschutzgesetz-gespraech-mit-philipp-von-gall/

15. April 2019


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