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RAUB/1213: Lebensmittel - das große Verschweigen ... (SB)



Bei Abschaltung der Stromzufuhr werden Sie bald kein Wasser mehr aus Ihrem Wasserhahn bekommen. Sie werden sich auf Ihre Nachbarn verlassen müssen, um Essen und etwas Wärme zu bekommen. Sie werden unterernährt sein. Sie werden nicht wissen, ob Sie bleiben oder gehen sollen. Sie werden befürchten, gewaltsam getötet zu werden, bevor Sie verhungern.
Jem Bendell - Deep Adaption [1]

Obwohl zu den großen Emittenten von Treibhausgasen gehörend, widmet die Bundesregierung der Landwirtschaft in ihrem Klimaschutzprogramm eher wenig Aufmerksamkeit. Im Prinzip förderliche Maßnahmen wie eine "Senkung der Stickstoffüberschüsse", der "Ausbau des Ökolandbaus", der "Emissionsminderungen in der Tierhaltung", des "Humuserhaltes und Humusaufbaus im Ackerland" oder der "Vermeidung von Lebensmittelabfällen" [2] bleiben in ihrer Ausführung so unkonkret, daß man sich vorstellen kann, was von diesen Zielen übrigbleibt, wenn Standesorganisationen wie der Deutsche Bauernverband und die großen Akteure der Lebensmittel- und Chemieindustrie ihre Forderungen geltend machen. Der Zusammenhang des Konsums von Tierprodukten und der Entwicklung des Klimas wird überhaupt nicht angesprochen, ebensowenig wird ein kritischer Blick auf die destruktiven Folgen des Exportes von Nahrungsmittel in den Globalen Süden und des Importes von Futtermittel aus Ländern wie Brasilien und Argentinien geworfen.

Kurz gesagt, das Problem wird nicht wirklich ernst genommen, weder zugunsten des Erreichens der Klimaziele noch der langfristigen Herstellung von Ernährungssicherheit. Ruhe ist erste Bürgerpflicht, sagt sich die Bundesregierung in Anbetracht der allmählich den Ernst der Lage erkennenden Bevölkerung, und verbreitet weiterhin den Eindruck, als sei die Bereitstellung von Nahrungsmitteln lediglich von einer starken Exportindustrie, einer florierenden Finanzwirtschaft und den Ressourcennachschub aus aller Welt sicherstellenden Streitkräften abhängig. Die auf die Ernährung entfallenden Ausgaben bei durchschnittlichen Haushaltseinkommen sollen bei einem Sechstel des verfügbaren Budgets liegen, was in Anbetracht der hohen Mieten, auf die der Löwenanteil der monatlichen Ausgaben entfällt, nicht erstaunen kann, aber zugleich den Eindruck erweckt, als könne diese essentielle Reproduktionsleistung stets irgendwie aufrechterhalten werden.

Das ist mitnichten der Fall. In vielen Weltregionen ist die tägliche Kalorienzufuhr und Verfügbarkeit nicht kontaminierten Trinkwassers seit jeher ein Problem für Millionen, das hierzulande kaum wahrgenommen wird, obwohl der hohe Standard der eigenen Ernährung mit dem massenhaften Hunger andernorts zumindest mittelbar verknüpft ist. Die sich mit der Klimakatastrophe abzeichnenden Gefahren für die Ernten weltweit sorgen allerdings dafür, daß selbst eine so gut bemittelte Bevölkerung wie die der Bundesrepublik nicht mehr außerhalb der Reichweite gravierender Ernährungskrisen lebt. Das Ausbleiben von Niederschlägen wie 2018 in Kombination mit der zunehmenden Auslaugung der Boden durch synthetische Düngemittel [3] und der großflächigen Einebnung der Landschaften durch die Beseitigung von Knicks und Bäumen läßt die Ackerböden auf eine Weise erodieren, die sogar hierzulande zum Ausbruch von Sandstürmen führen kann.

Auch ist der drastische Anstieg der Preise für fruchtbaren Boden nicht nur den Anlageproblemen von Kapitalinvestoren geschuldet, die aufgrund niedriger Zinsen und der zur Rezession tendierenden Überproduktion der Industrie nicht wissen wohin mit ihrem Geld. Ackerland ist ein wertvolles, nicht vermehrbares, sondern aufgrund der permanent fortschreitenden Versiegelung der Landschaft durch den Bau von Verkehrsinfrastrukturen und Gebäuden schwindendes Gut. Seine Bewirtschaftung bringt Erträge hervor, die proportional zum zunehmenden Mangel an Nahrungsmitteln wachsen, was auch den Wert des Bodens steigert, auf dem sie produziert werden. Das Land Grabbing in Rumänien und Bulgarien, wo die Böden aufgrund noch nicht vorhandener Intensivlandwirtschaft als besonders gut gelten und häufig zum Biolandbau taugen, erinnert denn auch an die frühkapitalistische Enteignung der Landbevölkerung und ihre Verwandlung in doppelt freie LohnarbeiterInnen - frei vom Eigentum an Produktionsmitteln und frei zum Verkauf der Ware Arbeitskraft. Wie im Manchesterkapitalismus vor 200 Jahren sind Menschen, denen der letzte Halt der Subsistenzwirtschaft genommen wurde, dazu gezwungen, fast jede noch so schlecht entlohnte Form der Lohnarbeit anzunehmen.

Man muß nicht so pessimistisch sein wie der Nachhaltigkeitswissenschaftler Jem Bedell, der nach ausführlichem Studium des Datenmaterials der Klimawissenschaften zu dem Schluß gelangt ist, daß sich ein klimawandelbedingter gesellschaftlicher Zusammenbruch schon jetzt nicht mehr aufhalten läßt. Seiner Ansicht nach müsse vor allem darüber nachgedacht werden, wie man sich auf diesen Katastrophenfall einstellt. So seriös das Zustandekommen seiner Prognose ist, so vehement wurde sie von den Agenturen des Wissenschaftsbetriebes abgelehnt. Zwar war am Zustandekommen seiner Aussagen nichts auszusetzen, man bemängelte jedoch den persönlichen Tonfall, mit dem er seiner Besorgnis Ausdruck verlieh. Zu unterstellen, daß die Erkenntnisse, die ein tief in patriarchaler und eurozentrischer Ideologie verankerter Wissenschaftsbetrieb erwirtschaftet, frei davon seien, lebensfeindlichen Entwicklungen Vorschub zu leisten, beruht mindestens so sehr auf frommem Glauben, wie er KritikerInnen wissenschaftlich legitimierter Wahrheiten angelastet wird, auf denen die Handschrift partikularen Interesses nicht zu übersehen ist.

Künftige Nahrungsmittelkrisen hätten in jedem Falle schwerwiegende soziale Folgen, ist physischer Hunger doch mit dem Zerbrechen der dünnen Schicht zivilisatorischer Regulation und der Freisetzung archaischer Überlebenskämpfe fast synonym zu setzen. Daher sind Ernährungsfragen immer auch politische Fragen, das gilt nicht nur für soziale Bewegungen, die den Kampf für Ernährungssouveränität und die Respektierung indigener und kleinbäuerlicher Formen des Anbaus von Feldfrüchten auf ihre Fahnen geschrieben haben. Der in der neoliberalen Marktgesellschaft verbreitete Eindruck, hier gehe es um technische Fragen des Ressourcennachschubes, über die Angebot und Nachfrage entschieden, unterschlägt aus naheliegendem Grund, daß die nicht zahlungsfähige Nachfrage der Hungernden in dieser Gleichung nicht auftaucht.

Die Erde ist nun Gegenstand eines universellen chemischen Bombardements, einer makroskopischen Version der Zerstörung der Wälder und Reisfelder durch die Agent Orange-Kriegführung der USA im Vietnam der 1970er Jahre. Die Aufgabe der meisten Agrarchemikalien besteht darin, etwas zu töten - sei es ein Insekt oder eine Pflanze. Ihre Ausbreitung in der globalen Umwelt stellt sicher, daß viele Arten, für die sie nicht gedacht sind, ob Menschen, Vögel, Frösche, Honigbienen oder Mikroorganismen im Boden, getötet oder verletzt werden, oder daß ihre reproduktiven, neurologischen und entwicklungsbiologischen Systeme geschädigt werden.
Julian Cripp - Food or War [4]

Der politische Sprengstoff, der in diesem Bereich der sozialen Reproduktion darauf wartet, zur Explosion zu gelangen, ist der groben Mißachtung der Lebenschancen von Milliarden Menschen geschuldet. Während vor allem im globalen Süden gehungert wird, werden die noch satt werdenden Menschen den Folgen der bis zu 4000 unterschiedlichen Chemikalien, die in der Landwirtschaft zum sogenannten Pflanzenschutz eingesetzt werden und die eine Reduzierung vitaler Inhaltsstoffe bewirken können, wie der mehr als 2500 chemischen Zusätze ausgesetzt, die in der industriellen Nahrungsmittelherstellung zur Modifizierung des Geschmackes und der Konsistenz, zur Färbung und verlängerten Haltbarkeit wie anderen kostensenkenden Zwecken Verwendung finden. Die flächendeckende Denaturierung der Nahrungsmittel hat dazu geführt, daß das, was in früheren Zeiten Standard war, heute unter dem Etikett "Bio" als Premiumware verkauft wird.

Seit die Klimakatastrophe in der breiten Öffentlichkeit nicht mehr nur als Randnotiz wahrgenommen wird, können die zerstörerischen Auswirkungen der industriellen Landwirtschaft nicht mehr ignoriert werden. Bezeichnenderweise hat das Thema bei der Weltklimakonferenz in Paris 2015 kaum eine Rolle gespielt. Dieses Jahr jedoch wird es in gleichem Atemzug mit den bislang dominierenden Fragen zum Zusammenhang von industrieller Produktionsweise und Emission von Treibhausgasen wie Energieerzeugung, Mobilität und Urbanität genannt. Dabei hat zum Beispiel die NGO GRAIN schon 2011 auf den Zusammenhang von Klimawandel und Nahrungsmittelproduktion hingewiesen. In der damals veröffentlichten Studie [5] wird der Anteil der Landwirtschaft an der Emission von Treibhausgasen, der üblicherweise auf etwa 15 Prozent geschätzt wird, bei Einbeziehung aller Vor- und Nachleistungen in Produktion, Logistik und Entsorgung zwischen 47 und 55 Prozent angesiedelt. Der Verbrauch fossiler Energie bei der Herstellung synthetischen Stickstoffdüngers, bei der Erdgas als Ausgangsstoff eingesetzt wird und die unter sehr hohen Temperaturen und Drücken erfolgt, wie die hochgradige Mechanisierung des Ackerbaus, die weltumspannenden Verkehrswege für Agrarprodukte, die Kühlkette vom Stall bis in den Supermarkt, das auf dem Feld und bei der Verpackung verwendete Plastik - in der Summe trifft das Bild, daß der Mensch sich praktisch von fossiler Energie ernährt, durchaus zu.

Da die Produktion von Fleisch, Milch und Eiern durch die kalorischen Verluste bei der Ernährung der sogenannten Nutztiere besonders ressourcenintensiv ist, wird über deren Verzehr heftig gestritten. Im Klimaschutzprogamm der Bundesregierung hat jedoch nicht einmal die moderate Forderung, Tierprodukte mit dem vollen Mehrwertsteuersatz zu belegen, Aufnahme gefunden. Trotz vergleichsweise viel höherer externalisierter Umweltkosten wird Kuhmilch weiterhin mit 7 Prozent besteuert, während für das pflanzliche, aus Soja, Hafer oder Nüssen gefertigte Äquivalent der volle Satz von 19 Prozent entrichtet werden muß. Dabei ist das Problem alles andere als marginal, wie insbesondere die ökologisch kostspieligste Form der Tierproduktion, die Zucht von Rindern für die Herstellung von Fleisch und Milch, zeigt. Allein die Biomasse der rund 1,5 Milliarden, durch ihren Wasserverbrauch und ihre Methanemissionen besonders klimaschädlichen Rinder weltweit ist um 60 Prozent höher als die von 7,4 Milliarden Menschen [6]. Wer, wie unlängst der Fleischfabrikant Clemens Tönnies [7], den Nachwuchs von Menschen im globalen Süden zum Problem erhebt oder mit dem demographischen Argument einer angeblichen Überbevölkerung punkten will, sollte zumindest erklären, warum der Konsum von Fleisch und Milch in den Industriestaaten und die dadurch bedingte Vielzahl in die Welt gesetzter Tiere so viel legitimer sein soll als das menschliche Reproduktionsverhalten.

Die Zerstörung der Humusschichten der Ackerböden durch intensive mineralische Düngung, ihre Überfrachtung mit Gülle aus der Tierproduktion und die daraus resultierende Überschreitung der Nitratwerte im Grundwasser, die endlichen Vorräte an Phosphor und die Nutzung fossiler Energie für Stickstoffdünger, die insbesondere durch die Landwirtschaft bedingte Zerstörung der Wälder nicht nur in Amazonien und die Landnahme durch staatliche wie private Agrokonzerne in Ländern, deren Bevölkerung nicht genug auf den Teller bekommt, der durch den Flächenbedarf der industriellen Landwirtschaft bedingte Verlust an Biodiversität insbesondere bei Insekten - all das und mehr sind Probleme, die mit der industriellen Grundlage menschlicher Ernährung zu tun haben.

Die Forderung nach Umstellung auf Biolandbau und den Einsatz agrarökologischer Verfahren, die Besinnung auf das reiche, in kleinbäuerlichen und indigenen Wirtschaftsweisen enthaltene Wissen um schonende Anbau- und Nutzungsmethoden, die Verfügbarkeit energiearmer Methoden der Konservierung und Lagerung von Lebensmitteln, die Stärkung regionaler Vertriebswege und genossenschaftlicher Versorgungsnetzwerke, der Anbau von Nahrungsmittelpflanzen in den Städten und die Einrichtung von Ernährungsräten, nicht zuletzt die Verringerung oder Einstellung des Verzehrs von Tierprodukten - an Möglichkeiten, das Problem schon jetzt an der Wurzel zu packen, besteht kein Mangel. Die sozialen Widersprüche, die ihrer Nutzung im Wege stehen, sind zutiefst in der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft und der herrschenden Eigentumsordnung verankert. Es wäre mithin verkürzt, den Zweck des Klimaschutzes zum Mittel der Schaffung von Ernährungssicherheit zu machen. Es geht um weit mehr als das, werden sich die Härten künftiger Verknappungen und Belastungen doch nur kollektiv und solidarisch bewältigen lassen, ansonsten wird der Barbarei freier Lauf gelassen.


Fußnoten:

[1] http://lifeworth.com/DeepAdaptation-de.pdf

[2] https://www.bundesregierung.de/resource/blob/997532/1673502/768b67ba939c098c994b71c0b7d6e636/2019-09-20-klimaschutzprogramm-data.pdf?download=1

[3] https://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub1193.html

[4] in eigener Übersetzung: Julian Cripp: Food or War. Cambridge 2019, S. 100
http://greensocialthought.org/content/flawed-food-dependency

[5] https://www.grain.org/media/W1siZiIsIjIwMTEvMDkvMjgvMDlfMzhfMTFfOTg3XzA5MjhfVjguQVRHX0NsaW1hdGVfRU4ucGRmIl1d

[6] https://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0131.html

[7] http://vaclavsmil.com/wp-content/uploads/2017/05/28.COWS_.pdf

4. Oktober 2019


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