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RAUB/1216: Auf der Straße - Sturm zieht auf ... (SB)



Mit der Pariser Polizeipräfektur schuf Bonaparte nicht nur ein Gegengewicht zur Macht des (damaligen) Polizeiministers Joseph Fouché (...) Seine Maßnahme war auch motiviert vom Misstrauen gegenüber dem Volk von Paris.
Historiker Jean-Marc Berliere im Interview mit der Libération [1]

Am 21. März löste Präsident Emmanuel Macron den als gemäßigt geltenden Pariser Polizeipräfekten Michel Delpuech ab und ersetzte ihn durch Didier Lallement. Dem 63jährigen eilte aus Bordeaux der Ruf eines autoritären und gnadenlosen Hardliners voraus, womit sein Auftrag in der Hauptstadt bereits hinlänglich umrissen sein dürfte, den Innenminister Christophe Castaner mit den Worten unterstrich: "Den Aufstand zerschlagen!" In wessen Dienst der Herr über einen riesigen Polizeiapparat von mehr als 42.000 Uniformierten steht, stellte er jüngst in aller Öffentlichkeit zweifelsfrei klar. Einer freundlichen Frau mittleren Alters, die ihm vor laufender Fernsehkamera erklären wollte, warum sie mit den Gelbwesten auf die Straße geht, erteilte Lallement, ohne sie eines Blickes zu würdigen, die schroffe Abfuhr: "Wir sind nicht im selben Lager."

Wurden die polizeilichen Spezialeinheiten zur Aufstandsbekämpfung in der Vergangenheit gegen große Streiks und in der Banlieue eingesetzt, so gingen sie auch mit massiver Repression gegen die Gilets Jaunes vor, die Tote und Schwerverletzte zu beklagen hatten, von zahlreichen Festnahmen ganz zu schweigen. Die schon früher im Jahr praktizierte Polizeitaktik, den Zusammenschluß verschiedener Bewegungen auf der Straße zu verhindern, setzt sich nun im Zuge des landesweiten Generalstreiks gegen die geplante Rentenreform fort. Da die Regierung Macron allen Grund hat, eine Konvergenz von Gewerkschaften, Massenstreiks, Protesten und Gelbwesten zu fürchten, schickt sie Panzerwagen, Wasserwerfer und Tausende schwerbewaffnete Bereitschaftspolizisten, um die Demonstrationen anzugreifen, zu spalten und zu zerschlagen.

Am 5. Dezember protestierten nach Behördenangaben mehr als 800.000 Demonstranten, die Gewerkschaft CGT zählte 1,5 Millionen Menschen. Zugleich legte ein Generalstreik das öffentliche Leben weitgehend lahm. Die Proteste waren noch umfassender als jene gegen Macrons Reformkurs auf dem Höhepunkt des öffentlichen Auftretens der Gelbwesten vor einem Jahr. Am Wochenende führten Streiks zu erheblichen Verkehrsbeeinträchtigungen, nur zehn bis 15 Prozent der Pariser Vorortzüge und jeder sechste TGV-Schnellzug fuhren, neun Metro-Linien blieben geschlossen. Im Louvre-Museum blieben einige Räume und im Grand Palais eine gesamte Ausstellung geschlossen. Auch die Pariser Oper, die Comédie Française sowie weitere Kultureinrichtungen sagten Vorstellungen ab. Bereits in den vergangenen Wochen hatten Bau- und Landwirtschaftsfahrzeuge aus Protest gegen die Pläne der Regierung, die Steuern für Kraftstoff ab 2020 zu erhöhen, Ölraffinerien im Land blockiert. Nun legten Lastwagenfahrer den Verkehr auf mehreren Autobahnen des Landes lahm, indem sie Fahrbahnen und Mautstellen versperrten, um diesem Protest Nachdruck zu verleihen. Wie jedes Jahr am ersten Samstag im Dezember versammelten sich die Menschen zu einer Demonstration gegen Arbeitslosigkeit und prekäre Arbeitsverhältnisse, und auch die Gilets Jaunes gingen an diesem Tag erneut auf die Straße. Auch in anderen Städten kam es zu Kundgebungen des Protests, aus Nantes und Lyon wurden Zusammenstöße zwischen Demonstrierenden und der Polizei gemeldet. [2]

Ungeachtet des Generalstreiks, der in den kommenden Tagen fortgesetzt werden soll, hat die Regierungspartei La République En Marche (LRM) wiederholt deutlich gemacht, daß sie nicht nachgeben wird. So unterstrich Premierminister Edouard Philippe, er sei entschlossen, die Rentenreform voranzutreiben: "Wenn wir heute keine tiefgreifende, ernsthafte und progressive Reform vornehmen, wird morgen jemand anders eine noch viel härtere durchsetzen", drohte er. Die neuen Maßnahmen würden jedoch "schrittweise" und "ohne Härte" eingeführt, behauptete Philippe. Die Regierung werde mit den Gewerkschaften zusammenarbeiten, um ein für alle Branchen geltendes, "gerechteres" Rentensystem einzuführen, das an die Stelle der bisher für verschiedene Branchen geltenden 42 Systeme treten soll. [3]

In einer Doppelstrategie von Repression und Einbindung versucht die Regierung offensichtlich, sich der Kollaboration der Gewerkschaften zu versichern, indem sie auf sozialpartnerschaftliche Weise Gespräche über die Rentenreform mit ihnen führt. Um den Protest auf der Straße unter gewerkschaftliche Kontrolle zu bringen, der andernfalls in einen Aufstand übergehen könnte, zollte Premierminister Philippe den Gewerkschaften "für ihren organisatorischen Erfolg" Respekt und erklärte, die Streiks und Proteste verliefen nach Plan. Hingegen kündigte der Vorsitzende des Gewerkschaftsdachverbands CGT, Philippe Martinez, an, nicht klein bei zu geben, bis der Reformplan zurückgezogen werde. Ob die CGT am Ende doch fest entschlossen ist, einen Kampf zur Verteidigung der Renten zu führen, muß jedoch mit einem Fragezeichen versehen werden. Denn während des gesamten Jahres, in dem die Gelbwesten auf die Straße gingen, wurden ihre Proteste von den Gewerkschaften isoliert und teilweise sogar explizit diskreditiert. Unterdessen saß die CGT mit Regierungsvertretern zusammen, um Gespräche über die in der Bevölkerung weithin abgelehnten Rentenkürzungen zu führen. Erst als es im November zu spontanen Arbeitsniederlegungen bei der Bahn, in den Krankenhäusern und in den Schulen kam, rief die CGT notgedrungen zum Streik auf, um nicht abgehängt zu werden. [4]

Da sich die Gilets Jaunes als eine Protestbewegung ohne Führung, Vertreter und feste Struktur sehr schnell weiterentwickelt, radikalisiert und eine enorme Durchschlagskraft entfaltet haben, wurde nicht nur die Regierung, sondern auch die Gewerkschaft auf dem falschen Fuß erwischt. Nach dem Willen der Regierung soll sich die Gewerkschaftsführung an die offizielle Spitze des aktuellen Protests setzen, um ihn auszubremsen und in kontrollierbare Bahnen zu lenken. Allerdings hat sich die Konstellation der Demonstrationen und Streiks, die in Frankreich zur politischen Kultur gehören und traditionell das Terrain der Gewerkschaften sind, in jüngerer Zeit gravierend verändert.

Daß die Mobilisierungsfähigkeit der Gewerkschaften darunter gelitten hat, wurde deutlich, als die Bewegung der Gelbwesten plötzlich auf den Straßen und Verkehrskreiseln in Erscheinung trat. Diverse gewerkschaftliche Aufrufe zum Generalstreik verhallten ungehört, doch die Proteste gingen jenseits der ausgetretenen Pfade weiter. Die Ablehnung jeglicher Vereinnahmung durch Parteien oder Interessengruppen wurden zum Markenzeichen der Gilets Jaunes und stärkten sogar ihre Position gegenüber der Regierung. Diese sah sich nicht nur gezwungen, die geplante Steuererhöhung auf Treibstoff zurückzunehmen, sondern mußte weitere Zugeständnisse machen, allen voran Steuersenkungen für den Mittelstand, Entlastungen für Rentner und alleinerziehende Mütter. Wenngleich es sich bei dem kolportierten finanzieller Umfang der Maßnahmen von insgesamt 17 Milliarden Euro in erheblichen Teilen um eine Mogelpackung der Regierung handelte, mußte diese doch erstmals seit Jahren einen Rückzieher machen. [5]

Angesichts dieser Erfahrung kommt es Macron sicher gelegen, daß die Gewerkschaften im gegenwärtigen Konflikt wieder eine sichtbare Rolle spielen. Seit Monaten wird verhandelt, auch vor der Präsentation der Reform am Mittwoch sind weitere Treffen vorgesehen. Doch die Frage, für wen Philippe Martinez spricht, ist aktueller den je. Seine CGT sowie die fünf anderen Gewerkschaften, die die Streikbewegung derzeit anführen, sind besonders im öffentlichen Sektor verankert. Dort geht die Gewerkschaftszugehörigkeit zwar auch zurück, ist aber immer noch etwa doppelt so hoch wie in der Privatwirtschaft. Wenn ein Teil der Mitarbeiter der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF, der Pariser Verkehrsbetriebe oder ein Teil der Lehrer die Arbeit niederlegen, sind die Auswirkungen erheblich.

Mehrere Gewerkschaftsführer sprachen kürzlich in der Presse davon, daß sie sich von einer radikalen Basis unter Druck gesetzt fühlen. Die Gelbwesten treiben nun die Gewerkschaften vor sich her, und da die Rentenreform alle Franzosen betrifft, müssen Philippe Martinez und andere fürchten, von wachsenden Teilen der Bevölkerung anhand ihrer Position und Kampfbereitschaft gewogen und für zu leicht befunden zu werden, gingen sie allen Lippenbekenntnissen zum Trotz einen Kuhhandel mit der Regierung ein. Sollten sie sich aber dazu durchringen, einem Zusammenwirken der verschiedenen Kämpfe den Zuschlag zu geben, könnten auch sie Teil des Sturms werden, der auf Frankreichs Straßen aufzieht.


Fußnoten:

[1] www.jungewelt.de/artikel/368282.frankreich-den-aufstand-zerschlagen.html

[2] www.welt.de/newsticker/news1/article204119530/Rente-Streiks-und-Proteste-in-Frankreich-Erneut-chaotische-Zustaende-erwartet.html

[3] www.tagesschau.de/ausland/streik-frankreich-121.html

[4] www.wsws.org/de/articles/2019/12/09/pers-d09.html

[5] www.nzz.ch/international/frankreich-proteste-wegen-emanuel-macrons-rentenreform-ld.1526699

9. Dezember 2019


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