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REPRESSION/1464: Hetzjagd in Insel - Sicherheitsverwahrung per Pogrom (SB)



"Wegsperren, und zwar für immer" - mit diesem berüchtigten Ausspruch stellte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahr 2001 zweierlei klar: Erstens stehen Grund- und Menschenrechte aus Sicht der Staatsräson zur Disposition und zweitens übernimmt die deutsche Sozialdemokratie einmal mehr ihre historische Funktion, den Bürgern einzutrichtern, daß die Zeit vermeintlich unantastbarer rechtlicher Refugien längst passé ist. Verglichen mit den von der rot-grünen Bundesregierung mittels der Hartz-Gesetze betriebenen Aushebelung sozialer Besitzstände auf breiter Front mochte die Forderung nach unbegrenzter Inhaftierung eng umgrenzter Personengruppen damals wie ein unbedeutender Nebenschauplatz anmuten. Zieht man jedoch in Betracht, daß die Demontage des Sozialstaats nach Maßgabe fortgesetzter Herrschaftssicherung ebenso wenig übers Knie gebrochen werden kann wie die daraus resultierende Ausgestaltung eines in seinen repressiven Möglichkeiten innovativen Staatswesens, muß man von Zug um Zug durchgesetzten Manövern ausgehen, die in ihren Anfängen allzu leicht übersehen und in ihrer Stoßrichtung und Tragweite unterschätzt werden.

Schröder bediente sich damals einer Serie spektakulärer Kindesmorde, um die von Massenmedien geschürte Pogromstimmung in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken. Sein Kalkül ging auf, für eine grundgesetzwidrige Forderung nicht etwa aus dem Amt gejagt und strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen zu werden, sondern sich im Gegenteil ein weiteres Mal als Kanzler zu profilieren, der Volkes Stimme in vorderster Front artikuliert. Nie ging es dabei um den vorgehaltenen Schutz der Gesellschaft vor bestimmten Straftätern, sondern vielmehr um eine ideologische und juristische Aufweichung maßgeblicher Schranken für die Durchsetzung des Gewaltmonopols. Indem gesellschaftliche Minderheiten und mithin leicht ausgrenzbare Gruppen aufs Korn genommen und unter allgemeiner Zustimmung ihrer Grundrechte beraubt werden, schafft man per Ausnahmefall Einfallstore entufernder Zugriffsgewalt auf alle Bürger.

Daß in einer solchen Treibjagd, wie man sie seit Monaten in der kleinen altmärkischen Ortschaft Insel bei Stendal in Sachsen-Anhalt verfolgen kann, reaktionärer Bürgersinn, parteipolitische Vorteilsnahme und neonazistische Umtriebe den Schulterschluß üben, kann nicht verwundern. Was sie ungeachtet gewisser Differenzen eint, ist der Impetus, für schwach, fremd oder unbrauchbar erachtete Menschen zu drangsalieren, zu vertreiben und in letzter Konsequenz zu vernichten. Immer geht es darum, den Grundwiderspruch der herrschenden Gesellschaftsordnung auszublenden und die daraus resultierende Ausbeutung, Verelendung und Ausgrenzung per Feindbildprägung und Bezichtigung zunächst Minderheiten, doch in der Folge immer größeren Teilen der Bevölkerung anzulasten.

Im aktuellen Fall von Insel, der sich so oder ähnlich vielerorts abgespielt hat, werden zwei ehemalige Straftäter, die nach Verbüßung ihrer Haft Jahrzehnte in Sicherheitsverwahrung verbracht haben, von einem wütenden Mob bedrängt und belagert, der sie aus dem Dorf vertreiben will. Die 54 und 64 Jahre alten Männer waren im Juni vergangenen Jahres aus Freiburg im Breisgau zugezogen, da ihnen das Wohnen zur Miete in einem Haus vermittelt worden war. Der ältere von beiden ist schwer krank und wünscht sich nur noch einen ruhigen Ort, seinen Lebensabend zu verbringen. Das will ein Teil der Einwohnerschaft von Insel jedoch nicht zulassen, der von der Landespolitik Abhilfe verlangt, regelmäßig auf der Straße demonstriert und die Präsenz von Neonazis mindestens duldet, wenn nicht sogar gutheißt.

An der Spitze der Initiative gegen die beiden Männer steht Bürgermeister Alexander von Bismarck, der etwa zwei Kilometer weiter auf einem 25 Hektar großen Grundstück in einem Herrenhaus lebt. Er führt häufig den Protestzug an und soll die Rechtsradikalen unter den Demonstranten als Gäste begrüßt haben. Als vor wenigen Jahren in Insel ein elfjähriges Mädchen vergewaltigt worden war, rieten Dorfbewohner der Mutter des Mädchens, von einer Anzeige gegen den Jungen aus dem Ort abzusehen. Dieselben Menschen, die damals dem Opfer vorgeworfen haben, es ruiniere mit seiner Anzeige das Leben des Täters, reihen sich heute in den Mob ein, der die beiden ehemaligen Sexualstraftäter aus dem Dorf jagen will. Hingegen tritt jener unmittelbare Nachbar der beiden zugezogenen Männer, dessen Stieftochter das Mädchen ist, dafür ein, daß die Grundrechte für alle zu gelten haben, weshalb man niemanden vertreiben dürfe.

Als Mitte Mai einer der beiden Männer dem ständigen Druck nicht mehr standhalten mochte und nach Chemnitz umzog, blieb er auch dort nicht lange anonym. Unter der reißerischen Überschrift "Freigelassener Sexgangster wohnt jetzt in Chemnitz" veröffentlichte die Bild-Zeitung seinen Wohnort, worauf sich angeführt von der NPD Demonstranten direkt vor seinem Haus versammelten. Angesichts dieser neuerlichen Bedrohung floh der Mann zurück nach Insel. Wie diese Entwicklung zeigt, verschleiert die Erklärung der dortigen Initiative, sie wünsche nichts weiter, als daß die beiden früheren Straftäter den Ort verlassen, da man sich in ihrer Anwesenheit nicht mehr sicher fühle, die allzu leicht entzündbare Pogromstimmung, die in der Entrechtung und Verfolgung von Menschen erst die Erfüllung von Recht und Ordnung zu erkennen glaubt.

Die Sicherungsverwahrung wurde in Deutschland zum ersten Mal im Nationalsozialismus gegen sogenannte Gewohnheitsverbrecher angewandt. Sie wurde in der Bundesrepublik zwar übernommen, aber auf höchstens zehn Jahre begrenzt, da das Prinzip galt, daß in einem Rechtsstaat kein Mensch auf unbestimmte Zeit eingesperrt werden sollte und selbst zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilte Mörder die Möglichkeit haben müssen, wieder freizukommen. Seit Mitte der 1990er Jahre wurde die Sicherungsverwahrung jedoch über diverse Gesetzesreformen immer weiter ausgebaut, während die Gerichte sie zunehmend öfter und früher anordneten. So wurde insbesondere die Begrenzung auf zehn Jahre aufgehoben, weshalb die Zahl der Sicherungsverwahrten über die Jahre stieg.

Diese Tendenz rief 2009 und 2011 den Europäischen Gerichtshof auf den Plan, der die Regelungen zur Sicherungsverwahrung in Deutschland verwarf. Zwei dieser Verschärfungen, so urteilten die Richter, verstießen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Zudem forderte der Bundesgerichtshof, daß sich Sicherungsverwahrung deutlich vom Gefängnis unterscheiden müsse. Diese Urteile führten dazu, daß inzwischen etwa 100 ehemalige Sicherungsverwahrte entlassen wurden und derzeit noch knapp 500 Menschen in Deutschland auf diese Weise festgehalten werden.

Die Straßburger Richter hatten 2009 geurteilt, daß eine rückwirkende Verlängerung der Sicherheitsverwahrung unvereinbar mit der Menschenrechtskonvention sei. Zwei Jahre später erklärten sie in einem weiteren Urteil, daß Gefangene nicht nach Verbüßung ihrer Strafe nachträglich zur Sicherungsverwahrung verurteilt werden dürfen. Die schwarz-gelbe Bundesregierung mußte auf die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte reagieren, und so trat am 1. Januar 2011 das "Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen" in Kraft, das die nachträgliche Sicherungsverwahrung abschaffte. Neu im Gesetz war jedoch, daß auch Ersttäter zu Sicherungsverwahrung verurteilt werden konnten. Dieses Gesetz erklärte das Bundesverfassungsgericht bereits am 4. Mai 2011 für verfassungswidrig.

Wie diese Entwicklung zeigt, haben Europäischer Gerichtshof und Bundesgerichtshof die repressiven Bestrebungen bundesdeutscher Regierungspolitik zwar gebremst, doch keineswegs einen unüberwindlichen Damm errichtet. Gefordert wird nicht die Abschaffung der Sicherungsverwahrung, sondern ihre konforme Anwendung, mithin eine weniger rabiate, doch dafür um so geschmeidigere Perforierung der Grund- und Menschenrechte, die man den Bundesbürgern mit Blick auf die Eindämmung künftiger Hungerrevolten präventiv zu entziehen gedenkt.

16. Juni 2012


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