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REPRESSION/1518: Staatliche Ermächtigung im Aufwind moralischer Empörung (SB)




Gerade einmal einige Tage währte der Frühling der Meinungs- und Pressefreiheit, den führende Regierungspolitiker der EU anläßlich des Anschlags auf das Satiremagazin Charlie Hebdo ausgerufen hatten. Er mündet in den Winter einer staatsautoritären Ermächtigung, die die Möglichkeiten demokratischer Partizipation vollends auf symbolpolitische Legitimationsakte wie jenen reduziert, der im Anschluß an das Attentat massenwirksam zur Aufführung gebracht wurde. Wäre die "Je suis Charlie"-Kampagne vom substantiellen Interesse an demokratischer Emanzipation getragen, dann müßte sie fugenlos in breite Proteste gegen die anstehende Aushebelung verbliebener Freiheitsrechte übergehen.

Nicht nur für die Einführung der Vorratsdatenspeicherung wird heftig getrommelt, obwohl sie den journalistischen Quellenschutz wie alle Formen vertraulicher Kommunikation bedroht. CDU-Generalsekretär Peter Tauber will Sympathiebekundungen für terroristische Vereinigungen unter Strafe stellen, was in Hinblick auf die höchst flexible und weitreichende Auslegbarkeit des Terrorismusbegriffs in seinen justiziablen Definitionen einen massiven Anschlag auf die Rechte aller Menschen darstellte, die in einem grundlegenden Sinne Staats- und Gesellschaftskritik betreiben.

Auf lange Sicht werde der Westen den Kampf gegen den Terror gewinnen [1], erklärte der britische Premierminister David Cameron anläßlich eines Treffens mit US-Präsident Barack Obama, bei dem es darum ging, die geheimdienstliche Zusammenarbeit zwischen den USA und Britannien zu vertiefen. Den "Westen" gegen den Terrorismus zu stellen läuft auf eine Kampfansage an alle hinaus, die nicht dazugehören, sprich die mehrheitlich islamischen Staaten, aber auch Rußland. Die angekündigten Maßnahmen zerlegen den Freiheitsanspruch westlicher Demokratien im gleichen Atemzug, in dem sie zu seiner Verteidigung aufrufen. So soll der grenzüberschreitende Zugriff der Sicherheitsbehörden auf die Daten sozialer Netzwerke möglich werden, und wer sich dem Anspruch auf totale Sicherheit nicht unterwerfen will und seine E-Mails verschlüsselt, soll in Britannien mit bis zu zwei Jahren Haft für den Fall bedroht werden, daß er die Weitergabe seines kryptografischen Algorithmus an den Staatsschutz verweigert. Journalisten, Geistliche, Anwälte und andere mit vertraulichen Informationen ihrer Klientel arbeitende Berufe werden ausdrücklich in das neue Überwachungsregime einbezogen, dessen Verabschiedung bislang an den Liberaldemokraten, dem Koalitionspartner der in London regierenden Tories, scheitert.

Die neuen Sicherheitsgesetze werden jedoch spätestens im Anschluß an die nächsten Unterhauswahlen in Kraft treten, da auch Labour weitgehend mit ihnen übereinstimmt. Sie umfassen auch sogenannte Antiradikalisierungsmaßnahmen, die an Schulen und Universitäten durchgeführt und dabei auch die Inhalte des jeweiligen Lernstoffes betreffen werden. Schon die Rechtfertigung sogenannter extremistischer Ideologien selbst gewaltfreier Art soll verhindert werden, was mit richterlicher Anordnung erwirkt werden kann [2]. Auf der Agenda der Tories stehen auch weitgehende Einschränkungen des Streikrechts [3], die mit der Verschärfung der Antiterrorgesetze Hand in Hand gehen.

Daß all das in einer Klassengesellschaft stattfindet, in der immer mehr Menschen hungern und die Suizidraten Behinderter massiv angestiegen sind, weil ihre notdürftige finanzielle Bemittelung unter dem sozialeugenischen Vorwand, sie drückten sich vor der Lohnarbeit, gestrichen wird, belegt die Stoßrichtung der aktuellen Offensive staatlicher Gewalt. Sie ist vor allem gegen jeden sozialen Widerstand gerichtet, der das Austeritätsregime in Frage stellt, das den Geschäftsbetrieb kapitalistischer Staaten zu Lasten aller Lohnarbeitenden und Versorgungsbedürftigen sichern soll.

Der Eindruck, hier rasten bürgerliches Freiheitsrecht und Staatsschutzinteresse wie zwei Züge in entgegengesetzter Fahrtrichtung aufeinander zu, trügt allerdings. Die Verfechter einer Meinungs- und Pressefreiheit im Sinne der ermordeten Mitarbeiterin und Mitarbeiter Charlie Hebdos sind rar gesät und laufen erst recht Gefahr, staatlicher Repression zum Opfer zu fallen, wenn sie sich mit wirklich mächtigen Kräften anlegen. Die Freiheit von Wort und Schrift zu garantieren, ist vor allem dort geboten, wo sie im politischen Sinne bedroht ist, und da sind die Gewaltverhältnisse klar sortiert. Angesichts des Anschlags von Paris einen gesellschaftlichen Konsens zur Einschränkung bürgerlicher Freiheiten zu erwirken, wenn diese vor allem von Kritikern des kapitalistischen Staates und seiner neofeudalen Eliten in Anspruch genommen werden, stellt die dies betreibenden Staatsfunktionäre vor kein besonderes Problem.

Dies gilt um so mehr, als die ideologische Vereinnahmung der europäischen Bevölkerungen kaum mehr in Frage gestellt wird. Diskutiert wird bestenfalls darüber, ob "der Islam" zu "Deutschland" gehört oder nicht. Die Frage, ob sich Menschen oder Bevölkerungen überhaupt unter das Etikett einer Religion oder Nation subsumieren lassen oder die individuelle Eigenständigkeit jedes Menschen eine derartige Verallgemeinerung nicht prinzipiell ausschließt, ist in Zeiten nationaler Selbstvergewisserung keiner Debatte mehr würdig. Wenn Frankreichs Präsident François Hollande die Einheit der Nation beschwört und David Cameron sich einer identitären Rhetorik des Krieges bedient, dann will man auch hierzulande nicht zurückstehen und debattiert über selbstredende Verfassungsgrundsätze, als ob es sich um besondere Privilegien handelte. Einen Moslem nicht zuerst als Menschen, sondern als Angehörigen einer Religion zu behandeln, die auch noch unter den Verdacht gestellt wird, in ihrer theologischen Fundierung den Terrorismus zu fördern, ist Ausdruck einer ideologischen Freund-Feind-Unterscheidung, die in dieser Verallgemeinerung auf eine lange Tradition Krieg und Genozid begünstigender Entwicklungen verweist.

Es ist auch kein Zufall, daß kaum mehr von der "Bundesrepublik Deutschland" die Rede ist, erinnerte das doch an den konstitutionellen Anspruch eines Gemeinwesens, über dessen Bevölkerung von oben verfügt werden soll, um sie als nationales Kollektiv in neue Frontstellungen zu treiben. Die Reihen werden fest geschlossen, und wer sich nicht beeilt dazuzugehören, bleibt draußen einem ungewissen Schicksal überlassen. Der kulturalistische Tenor, in dem über den Anschlag von Paris und seine Folgen debattiert wird, stellt Zwischentöne und Gegenpositionen von vornherein ins Abseits des Verdachts, an der Konkretisierung der abstrakten Nation zur Volks- und Notgemeinschaft und der Etablierung operativer Kriterien des Ein- und Ausschlusses nicht teilhaben zu wollen.

Spätestens dort greifen Antiextremismus und Antiradikalisierung als konkrete Instrumente einer Bezichtigung, die bei Menschen, die nicht über die erforderliche Staatszugehörigkeit verfügen, schon jetzt über Leben und Tod entscheiden können. Wozu wird PEGIDA gebraucht, wenn die Erwirtschaftung einer kollektiven Identität "der Deutschen", "des Westens" oder "des jüdisch-christlichen Abendlandes" längst von den Eliten in Politik, Medien und Kultur betrieben wird?

Es handelt sich um ein klassisches Ablenkungsmanöver, das offen zu Tage liegende Widersprüche staatlichen Handelns im Widerschein bester Absichten harmonisiert: das Interesse an der Zuwanderung nützlicher Experten und die blutige Abwehr sogenannter Armutsflüchtlinge, das freundliche Gesicht der Exportnation und ihre imperialistische Ermächtigung, das wohltätige Wirken des EU-Hegemons und die Ausbeutung seinen Spardiktaten ausgelieferter Bevölkerungen, das vollmundige Eintreten für Klima- und Umweltschutz bei anwachsendem Raubbau an Mensch und Natur in den Ländern des Südens, die kaum erfolgte Berichterstattung über die Ermordung des eritreischen Flüchtlings Khaled Idris Bahray in der Hauptstadt der PEGIDA-Bewegung Dresden bei gleichzeitiger Skandalisierung der diese Gewalttat verurteilenden Proteste, um nur einige Beispiele für die Diskrepanz zwischen wertegestütztem Anspruch und interessenpolitischer Realität zu nennen.

Sich auf all das einen Reim zu machen, ohne streitbar Position zu beziehen, bedarf starker Kontraste, um den Blick auf die zu Lasten anderer gehende Stoßrichtung staatlichen Handelns zu verstellen. Den realpolitischen Sozialrassismus in seiner häßlichen Gestalt den Exponenten dieser Bewegung zuzulasten und in ihrem Windschatten eine neofeudale Herrschaft auszubauen, die sich stets Fußtruppen dieser Art zu bedienen wußte, zeigt, daß die Staatskunst eines Niccolo Machiavelli auch und gerade heute in voller Blüte steht.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/usa-und-grossbritannien-wollen-noch-enger-gegen-terror.264.de.html?drn:news_id=442835

[2] http://www.wsws.org/en/articles/2015/01/13/ukte-j13.html

[3] https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/2015/01-16/007.php

18. Januar 2015


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