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REPRESSION/1549: Türkei auf dem Weg in die Präsidialdiktatur (SB)



In der Türkei haben die parlamentarischen Beratungen über die geplante Verfassungsreform begonnen, mit der ein Präsidialsystem eingeführt werden soll, das Recep Tayyip Erdogan diktatorische Macht verleihen würde. Sollten sich Erdogan und das AKP-Regime mit diesem Vorhaben durchsetzen, dürfte der Präsident und Regierungschef künftig einer Partei angehören. Bislang ist der Staatschef formal kein Mitglied der AKP, wenngleich diese de facto seine Partei ist. Der Präsident würde nach der Verfassungsreform nicht mehr vom Parlamentschef, sondern von einer vom Staatschef zu bestimmenden Zahl von Vizepräsidenten vertreten, wobei der Präsident für die Ernennung und Absetzung seiner Stellvertreter und der Minister zuständig wäre.

Schon durch den Ausnahmezustand, der seit dem Putschversuch Mitte Juli 2016 gilt, kann Erdogan per Dekret regieren. Im angestrebten Präsidialsystem kann der Staats- und Regierungschef aber sogar Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen. Eine nachträgliche Zustimmung durch das Parlament, wie derzeit im Ausnahmezustand, entfällt. Die Dekrete können nur dann unwirksam werden, falls das Parlament zum jeweiligen Thema selbst ein Gesetz verabschiedet.

Parlament und Präsident würden künftig am selben Tag für fünf Jahre vom Volk gewählt. Die zeitgleiche Wahl erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß der Präsident auch eine Mehrheit im Parlament erringt. Als erster Wahltermin ist im Gesetzentwurf der 3. November 2019 vorgesehen. Zudem bekäme der Staatschef größeren Einfluß auf die Justiz: Der Rat der Richter und Staatsanwälte würde auf dreizehn verkleinert, der Präsident ernennt dann vier Mitglieder, das Parlament drei weitere. Damit haben Staatschef und Parlament bei der Neubesetzung die Mehrheit. [1] Außerdem sieht die Reform eine Ausweitung des Parlaments von 550 auf 600 Abgeordnete sowie die Absenkung des passiven Wahlalters von 24 auf 18 Jahre vor. Der Präsident soll maximal zweimal für jeweils fünf Jahre amtieren dürfen.

Der Entwurf wurde von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) mit der Unterstützung der ultrarechten Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ins Plenum eingebracht. Die Republikanische Volkspartei (CHP) bezeichnet die Reform als Bedrohung für Demokratie und Gewaltenteilung. Mit der Reform würde die Türkei zu einem "Parteienstaat" unter der Kontrolle eines einzigen Mannes. Die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP), von der Dutzende Abgeordnete in Haft sitzen, läuft ebenfalls Sturm gegen die einschneidende Reform. Vor der Debatte versammelte sich eine kleine Gruppe von Demonstranten vor dem Parlament, bis die Polizei sie mit Gewalt auseinandertrieb, wobei Medienberichten zufolge mehrere Abgeordnete verletzt wurden. [2]

Da dem Regime für eine Verfassungsänderung die erforderliche Zweidrittelmehrheit im Parlament fehlt, setzt die AKP stattdessen auf ein Referendum, wofür sie nur 330 der 550 Stimmen benötigt. Weil es Erdogan gelungen ist, die MHP auf seine Seite zu ziehen, haben die beiden Parteien dafür theoretisch eine solide Mehrheit, da zu den 316 Stimmen der Regierungspartei die 40 der Ultrarechten kämen. MHP-Chef Devlet Bahceli unterstützt das Vorhaben, in seiner Partei aber regt sich Widerstand. Sieben MHP-Abgeordnete haben angekündigt, nicht für den Entwurf zu stimmen, und Medienberichten zufolge gibt es auch unter den AKP-Abgeordneten Vorbehalte, doch ist offen, ob aus diesem Kreis jemand dagegen stimmen wird. [3]

Die AKP strebt an, die Debatte über die 18 Artikel, die als die tiefgreifendste Änderung des politischen Systems der Türkei seit Jahrzehnten gilt, in nur zwei Wochen abzuschließen. Die CHP forderte deutlich mehr Zeit, konnte sich aber nicht durchsetzen. Die AKP will den Entwurf bereits am 24. Januar zur Abstimmung stellen, die Volksabstimmung über das Paket soll dann am 2. April stattfinden. Da jüngsten Umfragen zufolge die Zustimmung der Bevölkerung zum Referendum nicht gesichert ist, drückt Erdogan aufs Tempo, um den Schwung des seit dem Putschversuch aufgebauten Bedrohungs- und Bezichtigungsszenarios nicht vorzeitig verebben zu lassen. Er will die extreme Polarisierung der türkischen Gesellschaft in ein islamisch-konservatives und ein säkular-linksliberales Lager nutzen, die er selbst herbeigeführt und verschärft hat. Die Reform soll nach der nächsten Präsidentenwahl 2019 in Kraft treten.

Wenngleich sich Erdogan und seine Anhänger auf die Vorbilder der funktionierenden Präsidialdemokratien USA und Frankreich berufen, sieht der AKP-Entwurf die Beseitigung auch der letzten verbliebenen Gewaltenteilung und demokratischen Kontrolle vor. Mit Recht spricht die linke Opposition deshalb von einer Selbstentmachtung des Parlaments. Die angestrebte Verfassungsänderung macht Erdogan zum Leiter der Exekutive und schafft das Amt des Ministerpräsidenten ab. Der Präsident dürfte eine politische Partei anführen und hätte die Macht, das Parlament aufzulösen sowie den Ausnahmezustand zu erklären. Ein Amtsenthebungsverfahren wäre nur unter extremen Bedingungen möglich. Im schlimmsten Fall könnte Erdogan bis 2029 im Amt bleiben, wenn er 75 Jahre alt ist. [4]

Der Präsident führt das wachsende Chaos auf innere und äußere Feinde zurück, die es mit harter Hand niederzuwerfen gelte, und seine Anhänger vertrauen ihm blind. Über die gleichgeschalteten Medien dringen andere Botschaften nicht zu ihnen durch. Jeder neue Anschlag, jede Kritik eines westlichen Politikers schweißt sie stärker zusammen. Täglich sterben Menschen, die Wirtschaft bricht ein, die Währung verfällt, die Inflation steigt, immer mehr Oppositionelle jeder Couleur verlassen das Land, sofern sie nicht ins Gefängnis geworfen werden. Bislang richtet sich der Unmut über die Unsicherheit und die sich verschlechternden Lebensverhältnisse gegen bezichtigte Verschwörer und Minderheiten, nicht aber gegen Erdogan. Mit dem angestrebten Präsidialsystem will er seine Macht ausbauen und langfristig sichern, um die Opposition präventiv aus dem Feld zu schlagen, die sich früher oder später wieder regen und formieren wird.

Zudem beugt Erdogan mit der von ihm angestrebten Alleinherrschaft sogar der Möglichkeit vor, auf Widerstand im eigenen Lager zu stoßen. Während er bei Umsetzung der Verfassungsreform künftig nach Belieben das Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen könnte, hätte es das Parlament wesentlich schwerer, mit der erforderlichen Dreifünftelmehrheit die eigene Auflösung zu beschließen und damit auch die Neuwahl des Staatspräsidenten zu erzwingen. [5]

Mehr denn je wären die Bundesrepublik und die Europäische Union gefordert, dem Ende der parlamentarischen Demokratie und der Gewaltenteilung in der Türkei etwas entgegenzusetzen. Das wird jedoch nicht geschehen, solange ihnen das Hemd der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kollaboration mit dem Regime näher als der Rock ihrer Lippenbekenntnisse zu freiheitlichen Werten ist. Erdogan wird noch gebraucht, und für den Fall, daß sich das eines Tages ändern könnte, trifft er gerade Vorsorge - sofern er nicht daran gehindert wird. Ein erster wesentlicher Schritt wäre das Scheitern der Verfassungsreform.


Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-alle-macht-fuer-recep-tayyip-erdogan-a-1129172.html

[2] http://www.focus.de/politik/ausland/verfassungsreform-in-der-tuerkei-ein-mann-diktatur-erdogan-ueber-alles_id_6467240.html

[3] http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/tuerkei-verfassungsreform-koennte-erdogan-mehr-macht-geben-14611485.html

[4] http://www.fr-online.de/leitartikel/leitartikel-jetzt-entscheidet-sich-die-zukunft-der-tuerkei-,29607566,35066264.html

[5] http://www.deutschlandfunk.de/guenter-seufert-swp-politologe-praesidialsystem-waere-ende.694.de.html

9. Januar 2017


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