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REPRESSION/1594: Ankara - Pressefreiheit unter Strafe ... (SB)



In der Türkei Recep Tayyip Erdogans existiert keine Pressefreiheit mehr. Und das nicht erst seit gestern. Unter dem nach dem Putschversuch verhängten Ausnahmezustand, der seither siebenmal verlängert wurde, regiert der Präsident per Dekret und er will diese Machtfülle mittels der von November 2019 auf Juni 2018 vorgezogenen Neuwahlen des höchsten Staatsamtes und des Parlaments in den Dauerzustand eines präsidialen Regimes überführen. Erdogan hat die Schließung zahlreicher Medien verfügt, andere wurden von seinen Anhängern übernommen, nach Angaben der Nichtregierungsorganisation P24 sitzen mehr als 150 Journalisten im Gefängnis, darunter auch ausländische Pressemenschen, die als Tauschpfand in Geiselhaft gehalten werden.

Die Deutungsmacht in den Medien und damit in der türkischen Öffentlichkeit innezuhaben ist für Erdogan im Kontext des Arsenals repressiver Maßnahmen, einer Aufhebung der Gewaltenteilung und der Abschaffung bürgerlicher Rechte von zentraler Bedeutung. Um seinen Entwurf einer autokratischen Staatlichkeit durchzusetzen, muß er jegliche Opposition einschüchtern, verfolgen und mundtot machen, damit nur seine Stimme im Land gehört wird. Solange er noch in gewissem Umfang auf Mehrheiten angewiesen ist, dient die Gleichschaltung der Medien dem Zweck, die Propaganda der AKP-Regierung und ihrer Anhängerschaft als einzig weithin vernehmbare Auslegung zur Richtschnur für weite Teile der Bevölkerung zu machen.

Und die Zeit drängt, da die türkische Wirtschaft auf tönernen Füßen steht. Bevor es zum katastrophalen Absturz kommt, der die Lebensverhältnisse auf breiter Front erodiert und die Zustimmung zur politischen Führung in Ankara in den Keller sacken läßt, will Erdogan die Ernte seiner Machtübernahme einfahren und dauerhaft konsolidieren. Nationalismus, Chauvinismus und patriarchaler Stolz sind ideologische Versatzstücke eines gesellschaftlichen Überbaus, die für sich genommen ihre Bindekraft einbüßen könnte, wenn die materielle Basis für sehr viele Menschen wegbricht.

Im Umgang mit seinen Gegnern hat Erdogan im Zuge seines Aufstiegs zwei Dinge vom Westen gelehrt: Entmenschliche deine Widersacher zu "Terroristen" und bediene dich eines Szenarios, welches das Land zutiefst erschüttert und dem Sicherheitsstaat Tür und Tor öffnet. Richtete sich die Verfolgung zunächst gegen die kurdische Bewegung und die radikale türkische Linke, ist heute keine oppositionelle Regung mehr davor gefeit, mit dem Terrorverdikt überzogen zu werden. Der gesteuerte Putschversuch, von dem Erdogan mit hoher Wahrscheinlichkeit vorab Kenntnis hatte, lieferte den Vorwand, die Gülen-Bewegung auszuschalten, eine Umwälzung der Kapitalfraktionen zu forcieren und massenhafte Verhaftungen wie auch Entlassungen aus dem Staatsdienst durchzuführen. Auf diese Weise säuberte der Machthaber die Ökonomie, die Streitkräfte, die Justiz, das Bildungswesen, kurz jegliche Institutionen bis hinein in den Geheimdienst von potentiellen Gegenkräften, die durch regimetreue Chargen ersetzt wurden, wobei dieser Prozeß noch längst nicht abgeschlossen ist. Die Errichtung eines totalitären Regimes türkischer Version, das sich einer auch in Jahrzehnten säkularer Staatsräson nie wirklich aus dem Feld geschlagenen Religiosität in erheblichen Teilen der Bevölkerung bedient, nimmt die Züge eines Schlingerkurses an, der sich progressiv auf die Präsidialherrschaft hin verengt und zuspitzt.

Jüngste Opfer des Frontalangriffs auf regierungskritische Medien sind 14 führende Mitarbeiter der Zeitung Cumhuriyet, die von einem Gericht in Silivri bei Istanbul zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Sie wurden der "Unterstützung von Terrorgruppen, ohne Mitglied zu sein", schuldig befunden, der Buchhalter Emre Iper wurde wegen "Terrorpropaganda" verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte den Angeklagten Unterstützung der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, der linksradikalen DHKP-C und der Gülen-Bewegung vorgeworfen und argumentiert, Cumhuriyet sei von Anhängern Fethullah Gülens unterwandert. [1] Dies treibt die Absurdität der Vorwürfe auf die Spitze, da die 1925 gegründete älteste Tageszeitung des Landes stets der laizistischen Staatsauffassung Atatürks verpflichtet war und ausgiebig wie kaum eine andere Zeitung immer wieder vor dem Einfluß der Gülen-Bewegung gewarnt hat. [2]

Als im Oktober 2016 zahlreiche Mitarbeiter der Cumhuriyet verhaftet worden waren, wurde ihnen der Grund für die Festnahme nicht genannt, denn der unterlag der Geheimhaltung. Insgesamt waren 18 aktuelle und frühere Cumhuriyet-Mitarbeiter angeklagt. Der Herausgeber Akin Atalay wurde zu acht Jahren, einem Monat und 15 Tagen Haft verurteilt, der Chefredakteur Murat Sabuncu und der prominenten Investigativjournalist Ahmet Sik zu je siebeneinhalb Jahren. Gegen mehrere andere Mitarbeiter des Blattes wurden kürzere Haftstrafen verhängt, drei Angeklagte wurden freigesprochen. Das Verfahren von zwei abwesenden Angeklagten, darunter Ex-Chefredakteur Can Dündar, der im Exil in Deutschland lebt, wurde abgetrennt und wird fortgesetzt. Der auf Beschluß des Gerichts freigelassene Atalay saß 18 Monate in Untersuchungshaft, Sabuncu und Sik wurden im vergangenen Monat nach 490 beziehungsweise 430 Tagen U-Haft entlassen. Das Urteil nach dem neunmonatigen Verfahren ist noch nicht rechtskräftig, für die Zeit des Berufungsverfahrens bleiben die Journalisten und Mitarbeiter auf freiem Fuß, sofern man angesichts des Bedrohungsszenarios, dem sie ausgesetzt sind, davon sprechen kann.

Chefredakteur Murat Sabuncu bezeichnete den Prozeß als ein "Damoklesschwert", das über dem Journalismus in der Türkei schwebt. Seine Haftstrafe und die seiner Mitarbeiter würden sie nicht davon abhalten, ihren Beruf couragiert weiterzuführen. Kein Journalist in der Türkei solle sich von dem Urteil einschüchtern lassen. Reporter ohne Grenzen (ROG) erklärte, Cumhuriyet stehe "symbolisch für den mutigen Kampf der wenigen noch verbliebenen unabhängigen Medien gegen die beispiellose Verfolgung kritischer Journalisten in der Türkei". Die Anklageschrift sei "von sachlichen Fehlern durchzogen" und das Urteil "eine Schande für die türkische Regierung". [3] Der Deutsche Journalisten-Verband sprach von Willkürurteilen einer Justiz, die nicht der Gerechtigkeit, sondern nur noch den Allmachtsphantasien des türkischen Despoten Erdogan verpflichtet sei. An der Unterdrückung der Pressefreiheit und der Journalisten in der Türkei habe sich nichts geändert, die europäischen Demokratien müßten sich vehement für die Freilassung der Cumhuriyet-Journalisten einsetzen.

So unabdingbar es in juristischem Sinn sein mag, die erhobenen Vorwürfe inhaltlich zu widerlegen, um im Berufungsverfahren womöglich eine Aufhebung der erstinstanzlichen Urteile zu erwirken, zeichnet sich doch zweifelsfrei ab, daß Willkür am Werk und der Prozeß eine Farce ist. Wenn das Regime mit Recht und Gesetz argumentiert und die angebliche Unabhängigkeit der Justiz vorhält, heißt das nichts anderes, als daß die zitierten Sphären von ihm okkupiert oder auf Linie gebracht sind. Sogenannte Antiterrorgesetze sind bekanntlich kein Alleinstellungsmerkmal der Türkei, wo die Regierung wie in jedem anderen Staat versucht, ihre Interessen in Gesetzesform gießen zu lassen, um sie zu legalisieren. Wie überall bleibt es im Kern eine Frage der Macht, wer in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen die Oberhand behält oder die Gegenseite zumindest in ihren Ambitionen bremst. Folglich bedarf es über die juristische Vertretung der Angeklagten hinaus nicht zuletzt einer politischen Unterstützung im In- und Ausland, ohne die die Cumhuriyet-Mitarbeiter absehbar auf verlorenem Posten stehen.


Fußnoten:

[1] www.dw.com/de/lange-haftstrafen-für-cumhuriyet-mitarbeiter/a-43538775

[2] www.neues-deutschland.de/artikel/1086663.urteile-gegen-cumhuriyet-mitarbeiter-ich-bin-doch-journalist.html

[3] www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-journalistenverband-nennt-haftstrafen-unrechtsurteile-a-1204842.html

27. April 2018


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