Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


REPRESSION/1676: Gefangen - und jetzt erst Recht ... (SB)



Es geht darum, den Sozialismus, wo man lebt, zu verwirklichen. Wenn man für den Sozialismus kämpft, spiegelt sich das in der eigenen Praxis wider. Man zeigt den Menschen durch sein Leben eine Alternative auf, damit sie es verstehen. Wenn man nur darüber spricht, wird sich nichts verändern. Wir geben den Menschen mit unserem Kollektiv ein Beispiel dafür, wie man auch große Probleme bewältigen kann.
Ibrahim Gökcek 2014 zur kollektiven Praxis von Grup Yorum [1]

Die zur Bewältigung der Coronakrise von Regierungen, Parteien und Kirchen eingeforderte Solidarität sollte gerade für diejenigen gelten, die am meisten unter der Gefahr einer Infektion und den damit einhergehenden Isolationsbedingungen zu leiden haben. Das sind nicht nur körperlich vorgeschädigte Menschen insbesondere höheren Alters und sozial benachteiligte Minderheiten vor allem dann, wenn sie über keine gültigen Personendokumente und Aufenthaltstitel verfügen. Das sind auch die in den Knästen einsitzenden Menschen, die unter den engen und eingeschränkten Lebensbedingungen des Strafvollzuges jetzt in besonderer Weise bedroht sind. Handelt es sich dabei um politische Gefangene, die es auch in der Bundesrepublik unter kurdischen und türkischen AktivistInnen gibt, dann sind diese zudem der Gefahr ausgesetzt, im Schatten der Corona-Pandemie vollends vergessen zu werden.

Während ein politischer Gefangener wie Julian Assange breite internationale Unterstützung genießt und die kurdische Freiheitsbewegung dauerhaft und vehement für die Befreiung des bekanntesten politischen Langzeitgefangenen der Türkei, Abdullah Öcalan, streitet, werden die zahlreichen, häufig jahrelang inhaftierten AktivistInnen der türkischen und kurdischen Linken in der Türkei hierzulande kaum wahrgenommen. Dazu trägt die aus vielen Gründen skandalöse Unterstützung des Erdogan-Regimes durch die Bundesregierung maßgeblich bei, wird auf diese Weise doch wirksam verhindert, daß in der bürgerlichen Presse zum Beispiel über das Todesfasten der zwei Mitglieder der linken Musikgruppe Grup Yorum, Helin Bölek und Ibrahim Gökcek [1], und des linken Aktivisten Mustafa Kocak in der Türkei berichtet wird [2]. Alle drei befinden sich seit rund 9 Monaten im Hungerstreik und sollen inzwischen zwangsernährt werden, wozu sie gegen ihren Willen in verschiedene Krankenhäuser verschleppt wurden.

Während Helin Bölek schon im November 2019 freigelassen wurde, haben die türkischen Behörden Ibrahim Gökcek im Februar 2020 aus der Haft entlassen. Beide setzen den im Gefängnis begonnenen und dort viele Monate lang durchgehaltenen Hungerstreik auch außerhalb des Knastes fort, um die Beendigung der Verbote von Konzerten ihrer Band Grup Yorum, der permanent gegen die MusikerInnen gerichteten Repression und der häufigen Angriffe der Polizei auf ihr Kulturzentrum zu erreichen. Der nur noch 33 Kilogramm wiegende Mustafa Kocak wurde in einem Willkürprozeß zu lebenslanger Haft verurteilt und fordert nichts anderes als ein gerechtes Verfahren, um die Aufhebung des politisch motivierten Strafurteils gegen ihn erreichen zu können.

Da Auftritte von Grup Yorum in der Bundesrepublik von den Behörden strikt verhindert werden, so zuletzt im November in Köln [3], und die türkische wie kurdische Linke in der Bundesrepublik massiver Verfolgung ausgesetzt ist, erweist sich die Bundesregierung als Vollzugsgehilfin eines Regimes, dessen staatsautoritäre Ambitionen sie allem Anschein nach teilt. Wer die herrschende kapitalistische Eigentumsordnung zugunsten einer Form gesellschaftlicher Organisation überwinden will, die allen Menschen mehr soziale Gerechtigkeit verschafft und die die allen Bevölkerungen gleichermaßen zustehenden Lebensgrundlagen wirksamer erhält, wird nicht nur in der Türkei der Freiheit beraubt, sondern dem kann auch in Deutschland der politische Prozeß gemacht werden. In Bayern, wo gerade der Katastrophenfall ausgerufen wurde, soll der Gerichtsprozeß gegen zehn angebliche Mitglieder der Kommunistischen Partei der Türkei/ML (TKP/ML) allen Warnungen vor der akuten Gesundheitsgefährdung der Beteiligten zum Trotz stattfinden [4]. Nichts könnte den Verfolgungsdruck, unter dem die türkischen AktivistInnen in München stehen, besser dokumentieren als diese der allgemeinen Strategie zur Infektionsvermeidung zuwiderlaufende und bis zum jetzigen Zeitpunkt aufrechterhaltene Entscheidung.

Das wirft Fragen zur physischen Unversehrtheit aller Insassen im deutschen Strafvollzug auf. So hat die Solidaritätsgruppe Jena der Gefangenen-Gewerkschaft (GG/BO) am 16. März berichtet [5], daß es in der Thüringer JVA Untermaßfeld drei COVID-19-Verdachtsfälle gebe. Es liegt auf der Hand, daß die räumliche Enge des Strafvollzugs ideale Bedingungen zur Verbreitung des Coronavirus bietet, und das bei einer ohnehin gesundheitlich belasteten und häufig vorerkrankten, zudem medizinisch unterversorgten Gefangenenbevölkerung. Auch deren Probleme drohen im momentanen Schock, unter dem große Teile der Bevölkerung aufgrund der unerwarteten, in den meisten Fällen noch nie erlittenen Einschränkungen ihrer Lebensbedingungen stehen, unterzugehen. Um so wichtiger wäre es, so viele Gefangene wie möglich freizulassen und ihnen außerhalb der Knäste bessere Wohnmöglichkeiten zu verschaffen.

Wie begründet der Widerstand gegen eine politische Ordnung ist, die dem privatwirtschaftlichen Eigentumsanspruch allen anderen sozialen Belangen gegenüber Vorrang einräumt und die von Marktkonkurrenz getriebene Vereinzelung der Menschen sozialstrategisch ausnutzt, um die zur Verhinderung faschistischer Gewalt und Rettung ökologischer Lebensvoraussetzungen dringend notwendige Besinnung auf Kooperation und Kollektivität zu verhindern, wird in der aktuellen Krise auf vielerlei Weise sichtbar.

Während das Gebot sozialer Distanzierung epidemiologisch Sinn macht, erinnert es auch daran, daß die Grundvoraussetzung jeglicher Humanität, solidarisch zusammenzustehen und gemeinsam die Verbreitung rassistischer Gewalt und patriarchaler Barbarei zu verhindern, den Menschen schon im kapitalistischen Normalzustand permanent unmöglich gemacht wird. Wenn aus dieser Krise die Erkenntnis hervorgeht, wie wertvoll Ansätze eines neuen, kollektiven Denkens und praktischer internationalistischer Solidarität sind, dann könnte der dabei angerichtete Schaden nicht nur im Minus menschlicher Vergeblichkeit verbucht werden.


Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0034.html

[2] http://political-prisoners.net/item/7795-2020-03-17-07-28-21.html

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/repr1658.html

[4] https://www.rote-hilfe.de/77-news/1041-trotz-corona-pandemie-verantwortungsloses-festhalten-an-terminen-im-grossverfahren

[5] https://gefangenensolijena.noblogs.org/post/2020/03/16/erste-corona-verdachtsfalle-in-jva-untermasfeld-gg-bo-fordert-entlassung-von-gefangenen/

17. März 2020


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang