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REPRESSION/1684: Nahost - und nicht nur am Sterbebett verurteilt ... (SB)



Während die ganze Welt damit beschäftigt ist, Wege zur Bekämpfung des Virus zu finden, nutzt die türkische Regierung das Pandemieklima als Gelegenheit, um die schlimmsten Formen der Unterdrückung gegen kurdische demokratische Institutionen, insbesondere ihre Gemeinden, auszuüben. Das macht es für die Kurden noch schwieriger, das Coronavirus zu bekämpfen.
Feleknas Uca und Hisyar Özsoy (SprecherInnen für Außenbeziehungen der HDP) [1]

In der Klassengesellschaft sind die Voraussetzungen des Überlebens je nach Besitzstand und Einfluß höchst unterschiedlich verteilt, und diese Ungleichheit wird im Zuge einer imperialistisch dominierten Globalisierung weltweit noch um ein Vielfaches gesteigert. So liegen bei der durchschnittlichen Lebenserwartung in Deutschland zwischen der untersten Einkommensgruppe, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verdient, und den Spitzenverdienern mehr als acht Jahre bei Frauen und mehr als zehn Jahre bei den Männern. Weltweit könnte die Lebenserwartung Prognosen zufolge in insgesamt 59 Ländern bis 2040 über 80 Jahren liegen, während am unteren Ende mit durchschnittlich unter 65 Jahren afrikanische Staaten wie die Zentralafrikanische Republik, Lesotho, Somalia und Simbabwe landen.

Dieser "Normalbetrieb" der vorherrschenden Ausbeutung und Verfügung wird angesichts der Corona-Pandemie in Gestalt einer expliziten Selektion auf seine mörderische Spitze getrieben. Im Namen der Krise wird nunmehr in aller Offenheit diskutiert und praktiziert, wer gerettet und wer eliminiert werden soll. Über Jahre kommerzialisierte Gesundheitssysteme können die intensivmedizinische Behandlung aller schwer an Covid-19 Erkrankten nicht leisten, weshalb die Triage auch in Deutschland auf die Tagesordnung gesetzt, im benachbarten Elsaß bereits angewendet wird. Dort werden über 80jährige, mancherorts sogar über 75jährige Corona-Patienten nicht mehr beatmet, sondern dem Tode zugeführt. Wie sich dabei abzeichnet, begünstigt die Pandemie eine Legalisierung längst angedachter und vorgeplanter Entscheidungsprozesse über Leben und Tod, die auf dem Feld der Sterbehilfe noch weiter fortgeschritten sind.

Der Krisendiskurs, man habe es mit einem unvorhersehbaren viralen Notstand zu tun, der schwere, aber unvermeidliche Maßnahmen zum letztendlichen Wohle aller erzwinge, verschleiert die Ratio der Selektion. Das zeichnet sich in aller Deutlichkeit im Umgang mit bestimmten Bevölkerungsgruppen oder ganzen Staaten ab, denen man die dringend notwendige Unterstützung versagt. Verhängte Wirtschaftssanktionen werden nicht aufgehoben, in Lagern kasernierte Flüchtlinge ihrem Schicksal überlassen und oppositionelle Bestrebungen nun auch einem Angriff der Pandemie schutzlos ausgesetzt.

Davon sind in besonderen Maße die Kurdinnen und Kurden betroffen, deren Verfolger sich direkt oder mittelbar der Pandemie bedienen, um das lästige Problem eines Gegenentwurfs zu den herrschenden Verhältnissen womöglich aus der Welt zu schaffen, als sei eine Naturkatastrophe am Werk. Wie andere Regierungen und teils auch in deutschen Bundesländern praktiziert will das Erdogan-Regime angesichts der grassierenden Corona-Erkrankungen die Gefängnisse des Landes teilweise entlasten. Unterstützt vom faschistischen Koalitionspartner MHP und der oppositionellen kemalistischen CHP bringt die AKP dieser Tage ein Justizreformpaket zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes durch das Parlament, dessen selektiver Charakter nicht augenfälliger sein könnte.

In Folge der massenhaften Festnahmen und Aburteilungen durch das Regime sind die für rund 200.000 Gefangene angelegten Haftanstalten mit etwa 300.000 Menschen in Straf- oder Untersuchungshaft massiv überfüllt. Für acht Personen vorgesehene Gemeinschaftszellen müssen sich teilweise Dutzende Gefangene teilen, so daß an eine angemessene Behandlung Erkrankter nicht zu denken ist. Die Justizreform sieht vor, daß bis zu 112.000 Strafgefangene entlassen werden könnten, sofern sie bis 1. März die Hälfte ihrer Haftstrafe abgesessen hatten. Ältere und kranke Inhaftierte könnten ihre Reststrafe in Hausarrest umwandeln. Von dem Gesetz profitieren nicht nur Kleinkriminelle, sondern auch wegen schwerer Straftaten verurteilte Delinquenten, nicht jedoch politische Gefangene.

Ausdrücklich ausgenommen sind sogenannte Terrorstraftäter, vor allem also kurdische Politiker, regierungskritische Journalisten, Anhänger illegaler kommunistischer Organisationen oder auch Angehörige der Gülen-Bewegung, die für den Putschversuch von 2016 verantwortlich gemacht wird. Neben der HDP, deren frühere Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksedag zu den bekanntesten politischen Gefangenen gehören, übten auch Anwaltskammern aus den mehrheitlich kurdisch bewohnten Provinzen des Landes sowie Menschenrechtsorganisationen scharfe Kritik. Der Gesetzesentwurf stehe nicht im Einklang mit dem Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz und sei ein Freifahrtschein, um über Leben und Tod zu entscheiden, beklagte der renommierte Gerichtsmediziner Ümit Bicer. Das Vorgehen der Regierung zeige, daß auch eine Pandemie nichts am Feindstrafrecht ändere.

Unterdessen hat das Innenministerium weitere acht von der HDP gestellte Bürgermeister in den kurdischen Landesteilen durch staatliche Treuhänder ersetzt. Vier der Abgesetzten wurden unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung inhaftiert. Damit wurden seit den Kommunalwahlen vor einem Jahr bereits 40 von der HDP gewonnene Städte und Gemeinden unter Zwangsverwaltung gestellt. Das Regime kennt auch in Zeiten der Corona-Krise nicht nur kein Pardon, sondern liefert seine Gegner sogar gezielt einer Infektion mit möglicherweise lebensgefährlichen Folgen aus.

Das gilt auch für die kurdische Autonomieverwaltung in Nord- und Ostsyrien, die angesichts dramatisch zugespitzter Verhältnisse bislang vergeblich um internationale Hilfe ersucht hat. Sie wird von der Türkei angegriffen, aber auch von der syrischen Regierung und selbst der WHO nicht anerkannt, so daß jegliche Unterstützung ausbleibt. Da die Nachbarländer steigende Zahlen von Corona-Infizierten melden und der Iran besonders betroffen ist, steht auch in dieser Region eine Pandemie zu befürchten. Angesichts weithin fehlender Testmöglichkeiten ist ohnehin ungewiß, ob sich Covid-19 nicht längst schon unbemerkt ausbreitet.

Die Region beherbergt Flüchtlingslager mit mehreren Hunderttausend Menschen, die überwiegend aus den türkisch besetzten Gebieten in Nordsyrien und in jüngster Zeit auch aus Idlib geflohen sind. Zugleich befindet sich im Autonomiegebiet auch das größte IS-Camp al-Hol mit über 70.000 Insassen, die weitgehend unter dem Regiment der IS-Frauen stehen. Gelingt es angesichts der türkischen Invasion kaum noch, die Bevölkerung Rojavas angemessen zu versorgen, so gilt das um so mehr für die Lager, die komplett von internationaler Hilfe abgeschnitten sind. Was für die Flüchtlinge aus Idlib im Nordwesten zumindest diskutiert wird, um die Regierungen in Damaskus und Moskau anzugreifen, ist für die Autonomiegebiete überhaupt kein Thema mehr. Die Kurdinnen und Kurden fanden eine gewisse Beachtung, solange sie für den Kampf gegen den IS gebraucht wurden, und werden nun einer vorgetäuschten Vergessenheit überantwortet, die ihre Vernichtung zum Ziel hat.

In welchem Ausmaß die Türkei unter dem Deckmantel des Waffenstillstands und der sogenannten Schutzzone die auf die vollständige Vertreibung der kurdischen Bevölkerung abzielende Aggression fortsetzt, dokumentiert der Wasserkrieg. Nachdem bereits die Getreidespeicher gezielt vernichtet worden waren, drehten die islamistischen Verbündeten Ankaras der Region vor einem Monat für elf Tage das Wasser ab. Nun wurde erneut das zentrale Wasserwerk Elok bei Sere Kaniye (Ras al Ain) außer Betrieb gesetzt und die Gegend um die Stadt Hasaka von der Wasserversorgung abgeschnitten. Mit dieser Maßnahme soll eine verstärkte Stromversorgung der von der Türkei besetzten Gebiete erzwungen werden, wodurch kurdische Regionen nicht mehr versorgt werden könnten. [2]

Die Autonomieverwaltung hat Schutzmaßnahmen beschlossen und an die Bevölkerung appelliert, sich daran zu halten. Es trat eine Ausgangssperre in Kraft, die Reisefreiheit wurde eingeschränkt, Schulen und Universitäten wurden geschlossen und öffentliche Veranstaltungen untersagt. Den Grenzübergang Semalka zum Nordirak dürfen nur an wenigen Tagen Lkws mit Waren passieren. Doch da 90 Prozent der Bevölkerung auf ihre Arbeit angewiesen sind, ist eine vollständige Quarantäne nicht möglich. Woran es vor allem fehlt, sind grundlegende medizinische Schutzausrüstungen, Medikamente zur Behandlung von Infizierten und Beatmungs- und Sauerstoffgeräte. Es fehlt auch an sterilem Material für Abstriche, Testkits zur schnellen Identifikation von Fällen und Zugang zu Testlaboren. Und obwohl Corona-Fälle in Latakia, Aleppo und Damaskus bekannt sind, verweigert das syrische Gesundheitsministerium die Zusammenarbeit.

Da das ehemals gute syrische Gesundheitssystem nach fast neun Jahren Krieg vollständig zusammengebrochen ist, droht vor allem im nach wie vor umkämpften Norden des Landes einer der weltweit schwersten Ausbrüche der Corona-Pandemie. Der Mangel an Nahrung, sauberem Wasser und die Kälte haben die Gesundheit Hunderttausender Menschen untergraben, was sie noch anfälliger für eine Krankheit macht, die sich so schnell wie Covid-19 ausbreiten kann. Zugleich fehlt es weitgehend an den medizinischen Voraussetzungen, um die Ausbreitung einzudämmen und Erkrankte angemessen zu behandeln.

Nun wird aussortiert, wer für unbrauchbar, überflüssig oder feindlich einzustufen sei, während der Mensch seine Hände in der Unschuld der Desinfektionsmittel wäscht und das Virus sein sprunghaft ausmerzendes Werk verrichten läßt. Ganz auszuschließen ist dennoch nicht, daß die Menschen in westeuropäischen Ländern, die im Stundentakt mit den Hoffnung oder Furcht verbreitenden jüngsten Corona-Meldungen traktiert werden, ihrerseits zum Übersprung ansetzen. Wenn etwa das Singen von Balkon zu Balkon als Akt spontaner Wiedergewinnung einer vergessen geglaubten Solidarität in Zeiten der Pandemie gewürdigt wird, könnte mehr als das eigene Wohlergehen und ein fester gezurrter Sicherheitsstaat ins Blickfeld geraten.


Fußnoten:

[1] www.jungewelt.de/artikel/375259.türkei-keine-gnade.html

[2] www.heise.de/tp/features/Corona-Angst-in-Rojava-4690532.html

27. März 2020


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