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KULTUR/0782: Betäubte Bürger richten keinen Schaden an ... (SB)



In den 1960er und 1970er Jahren haftete selbst dem Eskapismus jugendlicher Drogenkonsumenten noch ein Hauch der Rebellion an. Der politische Aufbruch und kulturelle Umbruch dieser Zeit wurde stark von den Erlebnissen und Erkenntnissen beeinflußt, die Künstler und Intellektuelle, Schüler und Studenten mit exotischen, häufig mit orientalischen Kulturen assoziierten Rauschmitteln machten. Das bei seinen Nutzern grundstürzende Einbrüche in ihre ordnungsgemäße Kognition und Konditionierung bewirkende LSD, eine potente Rauschdroge aus den Labors der Pharmaindustrie, stand in besonders schlechten Ruf bei den Verteidigern herrschender Werte. Ob althergebrachtes, aus Pflanzen extrahiertes Genußmittel oder chemieindustrielles HighTech-Produkt, ihrer antagonistischen gesellschaftlichen Auswirkungen wegen wurden diese bewußtseinsverändernden Substanzen als regelrechte Ausgeburt des Bösen betrachtet und dementsprechend unnachsichtig kriminalisiert.

Zwar erfolgte dies unter dem Vorbehalt des gesundheitlichen Schutzes, doch der hochgradig ideologische Charakter des "Kriegs gegen die Drogen" dokumentierte, daß es um mehr als die Abwehr einer Gefahr für die Volksgesundheit ging. Sogenannte Psychedelika wurden mit einer Gegenkultur identifiziert, die als gefährliche Herausforderung tradierter Verfügungsverhältnisse abgewehrt werden mußte. Die Auseinandersetzung zwischen dem Establishment und der aufbegehrenden Jugend blieb allerdings eine kurze Episode in der Geschichte des Rauschmittelgebrauchs der westlichen Welt.

Sie wurde schnell durch die weitreichenden Auswirkungen eines Konsumismus abgelöst, der sich desto machtvoller, als er zuvor in Frage gestellt worden war, Bahn brach. Auf desaströse Weise verstärkt wurde diese Entwicklung durch die Verbreitung von Betäubungs- und Aufputschmitteln, deren stark suchtbildender Charakter sich besonders gut in die Erfordernisse einer kapitalistischen Schattenwirtschaft einpaßte. Was anfänglich den Charakter eines sozialen und gesellschaftlichen Experiments hatte, fügte sich nahtlos in die Verbrauchslogik eines Kapitalismus ein, der seine Effizienz unter anderem dadurch unter Beweis stellte, daß er einen Großteil der gegenkulturellen wie revolutionären Avantgarde für seine Zwecke rekrutieren konnte.

All dies fand in westlichen Gesellschaften statt, in denen der Konsum von Alkohol weithin akzeptiert, wenn nicht gar als Ausdruck maskuliner Stärke glorifiziert wurde. Obgleich nicht minder rauscherzeugend und suchtbildend als viele der verfemten Drogen erlangte das Trinken von Bier, Wein und Schnaps niemals den Status einer Gefahr, gegen die man sich mit allen gesundheitspolitischen und polizeilichen Mitteln zu wehren hätte. Zwar galt der notorische Trinker, der auch bei öffentlichen Anlässen nicht an sich zu halten wußte, als kranke und gescheiterte Existenz, doch führten die nicht geringen volkswirtschaftlichen Schäden des Massenkonsums berauschender Getränke niemals zu einer auch nur annähernd vergleichbaren Konfrontation wie einst der Genuß von Rauschdrogen, der mit Merkmalen betonter Differenz wie langen Haaren und ausgefallenen Bekleidungsstilen einherging.

Laut dem aktuellen Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung betrinken sich mehr als 20 Prozent der Jugendlichen mindestens einmal im Monat. Die Zahl der wegen gefährlichen Alkoholkonsums ins Krankenhaus eingelieferten Jugendlichen ist binnen sieben Jahren von 9514 (2000) auf 23.165 (2007) angestiegen. Cannabisprodukte hingegen werden von 2,3 Prozent der unter 25jährigen Bundesbürger mehr als zehn Mal im Jahr benutzt.

Offensichtlich hat das Bedürfnis, sich auf zuverlässige, legale und niederschmetternde Weise zu betäuben, unter Jugendlichen stark zugenommen. Gleichzeitig ist diese Jugend in einem Ausmaß von existentiellen Sorgen betroffen, die eigentlich allen Anlaß zu größter Nüchternheit geben, und zwar kaum deshalb, weil man durch besonderes Wohlverhalten bessere Aussichten auf eine befriedigende berufliche Karriere hätte, da auch ausgemachte Fitnessapostel immer weniger Chancen auf dieses vermeintliche Glück haben.

Dennoch macht kaum jemand Anstalten, hier ein Drogenproblem zu diagnostizieren und die Spritproduzenten als "Dealer" an den Pranger zu stellen. Im Fall von Alkohol ist man sich weitgehend einig, daß es sich um ein altes Kulturgut handelt, das in Maßen genossen keinerlei Schaden anrichtet. Dem ist schon deshalb nicht zu widersprechen, weil prohibitive Maßnahmen auch in diesem Fall gegenläufige Wirkungen wie die Etablierung eines Schwarzmarktes und die schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen gepanschten Alkohols hätte. Einer Bevölkerung immer mehr von dem zu nehmen, was nicht ausschließlich an ihrer produktiven Verwertbarkeit orientiert ist, ist zudem sozial zersetzend. Schon die Vertreibung der Raucher aus Kneipen, in denen man sich zu erfreulicheren Anlässen als dem täglichen Konkurrenzkampf traf, richtet sich gegen eine Kultur bürgerlicher Gemeinsamkeit, die nicht nur die Konformität der berüchtigten Stammtische produzieren muß. Eine der Dämonisierung des Rauchens auf den Fuß folgende Einschränkung des Trinkens schafft Untertanen und nützt Jugendlichen, die auf andere Mittel der Betäubung ausweichen können, wenig.

Zu fragen wäre viel mehr, was der Mensch sonst noch alles tun kann, als der Flucht in eine Besinnungslosigkeit zu frönen, die geradewegs in die nächsthöhere Ordnung der Anpassung führt. Die Zerschlagung einer florierenden Gegenkultur richtete sich keineswegs in erster Linie gegen den Gebrauch toxischer Substanzen, sondern meinte innovative Lebensformen, die sich gegen die herrschenden Verfügungsverhältnisse definierten. Das geringe Ausmaß, mit dem die allgemein akzeptierte Droge Alkohol bekämpft wurde, während der Gebrauch anderer Rauschmittel mit großem polizeilichen Aufwand unterbunden werden sollte, belegt die politische Intention dieses Eingriffes in die persönliche Lebensführung. Die relative Unaufgeregtheit, mit der der in vielerlei Hinsicht ungleich giftigere Konsum großer Mengen Alkohols zu einem bloßen Thema der Gesundheitspolitik herabgestuft wird, illustriert demgegenüber, daß von Alkoholikern nichts als Selbstdestruktion erwartet wird. Auch wenn das Leistungsideal heute einen geradezu asketischen Lebenswandel verlangt, scheint der Nutzen, der sich aus der Betäubung eines Teils der Bundesbürger ergibt, den Schaden zu überwiegen, den ihre mögliche Delinquenz erzeugt.

Demgegenüber Lebensmöglichkeiten zu erschließen, die sich auf eine nicht sozialpsychologische, sondern streitbare Weise mit der Frage der Not auseinandersetzen, die Menschen zum massiven Konsum von Rauschmitteln treibt, wäre für alle Betroffenen von Interesse, die sich nicht den ihnen zugedachten Reparaturbetrieben ausliefern möchten. Angesichts der vielen Möglichkeiten, sich zusammenzuschließen und Gemeinschaften zu bilden, in denen die Fremdbestimmung kapitalistischer Vergesellschaftung zugunsten einer autonomen und selbstbestimmten Lebensweise aufgehoben wird, könnte das Problem wie von selbst aus der Welt geschafft werden. Die Frage der Befreiung von Leid und Not ist auch ganz körperlich zu stellen, ist der Zwang zur Intoxikation doch in großem Ausmaß durch ein physisches Unbehagen bedingt, das der Versklavung des Körpers für Zwecke seiner produktiven Verwertung und sozialen Anerkennung geschuldet ist. Die Annäherung an neue Formen des Lebens bedarf Prothesen jeglicher Art desto weniger, als der streitbare Charakter eines Anliegens zutage tritt, das in einer Welt fremder Nutzenserwägungen keinen Platz haben soll.

5. Mai 2009