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KULTUR/0816: Bigotte Aufforderung zum Blick hinter den schönen Schein der Fußballwelt (SB)



Auf der Trauerzeremonie für den verstorbenen Nationaltorhüter Robert Enke im Hannoveraner Niedersachsenstadion forderte DFB-Präsident Theo Zwanziger:

"Fußball darf nicht alles sein. Denkt nicht nur an den Schein, an das, was sich dort zeigt über die Medien verbreitet. Denkt auch an das, was im Menschen ist, an Zweifeln und an Schwächen. Fußball ist nicht alles."

Der fromme Wunsch wurde durch die Verwandlung des Stadions in eine Kirche des Fußballs überzeugend widerlegt. Die Aufforderung, hinter den Schein zu blicken, unterstellt, daß es sich um einen solchen handelt, daß hinter der Fassade des Unterhaltungssports das echte und wahre Leben tobt. Für viele Fußballfans verhält es sich genau umgekehrt. Mit dem Gemeinschaftsgefühl, das ihnen der Fußball vermittelt, mit der Identität, die sie als Anhänger ihres Vereins und der beliebtesten Sportart erhalten, kann die prosaische Realität des homo oeconomicus nicht konkurrieren. Da die kapitalistische Gesellschaft nach der Austreibung der Utopie des Kommunismus nichts anderes bereithält als den Verbrauch des Lebens zum Erhalt der eigenen Arbeitskraft wie des ganzen Verwertungssystems, wenn ihr Subjekt nicht ohnehin dem Elend der als "unproduktiv" geführten Langzeitarbeitslosen überantwortet wird, gibt es für eingefleischte Fans keinen Grund, ihre Obsession zum bloßen Schein zu degradieren.

Es ist denn auch ganz und gar nicht so, daß Robert Enke, wie in vielen Berichten über die Trauerfeierlichkeiten behauptet, vor allem für seine menschlichen Eigenschaften, für seine Bescheidenheit und seine Zurückhaltung, für sein Engagement für Mensch und Tier geliebt wurde. Der Verstorbene war ein Fußballstar, dem zur Rechtfertigung des außergewöhnlichen Ausmaßes, mit dem eine persönliche Tragödie zu einem die Nation in Bestürzung vereinenden Weiheakt hypertrophiert, einige menschlich wertvolle Eigenschaften zugewiesen werden. Über Vorzüge wie die genannten verfügen viele Menschen, die niemals in Erscheinung treten, und sie zeichnen einen Fußballstar bestenfalls deshalb aus, weil die Härte des Geschäfts überdurchschnittlich viele Akteure mit aufgeblähtem Ego oder penetranten Starallüren hervorbringt.

Die in den Trauerreden wiederholt erfolgte Mahnung, mehr Menschlichkeit in den Sport einziehen lassen, treibt die Bigotterie des medialen Unterhaltungsgeschäfts auf die Spitze. Floskeln wie diese gehören zur Show wie der christliche Wertekodex zu den überaus unchristlichen Praktiken imperialistischer Kriegführung, menschenfeindlicher Flüchtlingsabwehr, sozialfeindlicher Ausgrenzung und kapitalistischer Ausbeutung. Die Bedeutung des Fußballs zur Befriedung einer Gesellschaft, die sich derartige Praktiken leistet und dennoch davon überzeugt ist, eine humanistisch-christliche Wertegemeinschaft zu sein, kann wohl kaum hoch genug eingestuft werden. Nicht umsonst wurde der Tod Enkes in den Hauptnachrichtensendungen von ARD und ZDF noch vor den Berichten über die erste Regierungserklärung der wiedergewählten Bundeskanzlerin gebracht.

Der medial vervielfältigte Unterhaltungssport Fußball ist ein gesellschaftliches Bindemittel ersten Rangs und fungiert für nicht mehr kirchlich gebundene Teile der Bevölkerung als vollwertiger Religionsersatz. Mit der Fußball-WM 2006 wurde ein Paradigmenwechsel im nationalen Selbstverständnis initiiert, dessen mit der Formel des "positiven Patriotismus" stets bestrittener Chauvinismus zusehends offen rassistische Formen annimmt. Muslime sind als Haßobjekt der neokonservativen Mitte salonfähig geworden, und wer in diesem System nicht mithalten kann, der findet sich schnell am Pranger einer sozialrassistischen Stigmatisierung wieder, wo ihm klargemacht wird, daß man von ihm nichts anderes vernehmen will als Dankbarkeit für die Krümel, die im liberalen Almosenstaat für die Armen vorgesehen sind.

Niemand im Fußballgeschäft meint ernsthaft, daß die Menschen hinter die Kulissen der Show schauen sollten. Das würde bedeuten, daß sie den Zirkus hochbezahlter Gladiatoren und Funktionäre, die Klassengesellschaft zwischen VIP-Lounges, Stehplätzen und ohnehin keinen Zutritt besitzenden Hartz IV-Empfängern, den Ausverkauf einer traditionell gewachsenen Fankultur an kommerzielle Sponsoren und die Verwertung des Fußballs als Schmiermittel der Werbewirtschaft oder Attraktion des Pay TVs boykottierten und sabotierten. Mit der massenmedial zelebrierten Trauer um den Tod Enkes werden die Schrauben des Deckels, unter dem die sozialen Widersprüche brodeln und drohen, bis auf das gesellschaftspolitisch vermeintlich neutrale Fußballfeld zu schwappen, noch einmal gründlich festgezogen.

15. November 2009