Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

KULTUR/0840: Sterben im Angesicht der Kamera ... (SB)



Ein Mann liegt in seinem Blut, Passanten gehen vorbei, als ob es die normalste Sache der Welt wäre. Sie werfen einen kurzen Blick auf ihn, gehen weiter. Einer hält an, schüttelt Arm und Kopf des wie leblos am Boden liegenden Körpers, als wolle er überprüfen, ob er noch lebt, und geht weiter. Zwei Männer nähern sich von der Seite, reden miteinander, einer macht ein Bild mit dem Foto-Handy. Über anderthalb Stunden am frühen Sonntagmorgen des 18. April geht das so. Mindestens 25 Personen können nicht anders, als den offensichtlich in Not befindlichen Mann zur Kenntnis zu nehmen. Sich um ihn zu kümmern oder auch nur einen Krankenwagen zu rufen kommt ihnen nicht in den Sinn, und wenn, dann haben sie Gründe, dies nicht zu tun. So trifft der Krankenwagen erst zu einem Zeitpunkt ein, als der Mann längst tot ist.

Die Szene spielte sich im New Yorker Stadtteil Queens auf einer trotz der frühen Stunde relativ belebten Straße ab. Bei dem Verstorbenen handelt es sich um den Obdachlosen Hugo Tale-Yax. Der 31jährige Guatemalteke hatte einer Frau beigestanden, die von einem Mann verfolgt wurde, und war dabei von diesem mit dem Messer verletzt worden. Im Sichtfeld einer Überwachungskamera bricht er zusammen, vermutlich bei dem Versuch, den Angreifer zu verfolgen. Nur wenig später laufen die ersten einer langen Reihe von Passanten vorbei, die sein Leben vermutlich hätten retten können.

Die New Yorker Tagespresse hat Hugo Tale-Yax zu einem Helden und Engel erklärt, man übt sich in Betroffenheit über die allgemeine Herzlosigkeit und gönnt sich einige Krokodilstränen. Das Ereignis wäre nicht publik geworden, wenn die Bilder der Videokamera den Vorgang nicht dokumentiert und nachvollziehbar gemacht hätten. Die Überwachung des öffentlichen Raums mag der Eindämmung von Kriminalität gewidmet sein, die Versorgung notleidender Menschen scheint nicht zu den Aufgaben des Systems zu gehören.

In US-amerikanischen Großstädten leben zahllose Menschen auf der Straße, sie schlafen und sterben dort. Die in der medialen Berichterstattung hervorgehobene Bereitschaft des Opfers, anderen zu helfen und darüber selbst das Leben zu verlieren, gibt der Tragödie eine spektakuläre Note, doch handelt es sich bei der Gleichgültigkeit der Passanten nicht um einen Ausnahmefall, sondern die Regel der Überlebens- und Konkurrenzgesellschaft. Sicher werden einige der Zeugen seiner Not kurz überlegt haben, irgend etwas zu unternehmen, doch nicht einmal zu einem Anruf bei der Notrufzentrale hat es gereicht. Von einem solchen Engagement sind nur Schwierigkeiten zu erwarten, man müßte vielleicht zeitaufwendige Befragungen durch die Polizei in Kauf nehmen, möglicherweise hatten einige der Passanten in dem vorwiegend von Latinos bewohnten Stadteil keinen legalen Aufenthaltstatus, und auch anonyme Anrufe können zurückverfolgt werden.

Mit dem Geschehen wird vor allem eine Aussage über das in Frage gestellte Lebensrecht von Menschen getroffen, die auf unterster Ebene der Gesellschaft ohne Job und Wohnung ihr Leben fristen. So sie nicht in akuter Lebensgefahr schweben, gestaltet es sich schwierig, medizinische Hilfe zu erhalten, haben sie nichts zu essen, stehen sie mitunter auch bei karitativen Organisationen vor geschlossener Tür, da diese den massiv gestiegenen Bedarf an kostenlosen Lebensmitteln längst nicht mehr befriedigen können.

Die Gleichgültigkeit der Passanten ist Ausdruck einer Ignoranz, die allen anderslautenden Behauptungen zum Trotz erwünscht ist. Die sozialdarwinistische Organisation der Gesellschaft hat den großen Nutzen, Solidarität im kleinen wie im großen als Fehler zu brandmarken, den nur Verlierer machen. Wo die Maximierung des individuellen Nutzens zum obersten Gebot erhoben wird, tritt der andere ausschließlich als Konkurrent und Freßfeind in Erscheinung. Ihm in der Not zu helfen zeitigt den eigenen Untergang, so die Soziallehre des homo oeconomicus, der dementsprechend so allein ist beim Sterben wie Hugo Tale-Yax. Was dieser zu erleiden hatte, will niemand wirklich wissen. Man feiert ihn als Helden des Alltags ab und wendet sich seinen Geschäften zu.

30. April 2010