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KULTUR/0860: "Mut zur Freiheit" ... niemals ungeteilt, niemals unbewaffnet (SB)



Glaubt man Herolden des neokonservativen Liberalismus wie Bundeskanzlerin Angela Merkel, dann sind herrliche Zeiten für nonkonformistische und radikale Minderheiten angebrochen. Meinungs- und Pressefreiheit werden praktisch ohne Einschränkung gewährt, so die Quintessenz der Rede, die die Bundeskanzlerin in Potsdam zur Verleihung des Medienpreises "M 100 Sanssouci Colloquium" an den dänischen Karikaturisten Kurt Westergaard hielt. "Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut" [1], lautete das Leitmotiv, mit dem sie den Zeichner der Mohammed-Karikaturen dafür würdigte, daß er sich durch Morddrohungen und einen Mordversuch nicht einschüchtern ließ.

Was ihn in seiner persönlichen Standhaftigkeit durchaus ehrt, findet in der politischen Verwertung des Eklats, den die Veröffentlichung der Karikaturen in der dänische Tageszeitung Jyllands-Posten vor fünf Jahren provozierte, seinen gegenteiligen Niederschlag. Der Mut, den die Laudatoren Merkel und Joachim Gauck zur Bedingung der Freiheit, die sie meinen, erheben, wird schon durch das erhebliche, mit Hubschraubern, Scharfschützen und schwerbewaffneten Polizisten gerüstete Sicherheitsaufgebot zum Schutz der Veranstaltung konterkariert. Auch in Anbetracht der schweren Auseinandersetzungen um die Karikaturen Anfang 2006 drängt sich bei einer derart martialischen Ausstaffierung dieses symbolpolitischen Schaufensters der Gedanke an Afghanistan auf, wo die Freiheit mit einer überlegenen Feuerkraft verteidigt wird, der die aus sicherer Distanz angegriffenen Menschen nichts entgegenzusetzen haben.

Wenn also die Potsdamer Sonne des aufgeklärten Absolutismus friderizianischer Prägung heller denn je auf das lichtscheue Element bornierter Gesinnungseinfalt scheint, dann fördert sie auch Geschehnisse zutage, die nicht gerade von großer Wertschätzung für den Mut einer kritischen Minderheit von Bürgern kündet. So hatten Berliner Antimilitaristinnen und Antimilitaristen unter dem Motto "Feste feiern, wie sie fallen" zu einem öffentlichen Sektumtrunk am Ehrenmal der Bundeswehr aufgerufen, sobald der nächste deutsche Soldat fällt. Sie hatten diese Protestaktion damit begründet, daß die Soldaten der Bundeswehr in Afghanistan einen "ehrlosen" Krieg führten, in dem die von ihnen umgebrachten Afghaninnen und Afghanen keinerlei Bedeutung hätten. Kein deutscher Staatsanwalt verteidige ihr Lebensrecht und Sicherheitsgefühl, während bei jedem deutschen Soldaten, der in einem Krieg fällt, an dem er freiwillig teilnimmt, ein widerwärtiger Heldenkult zelebriert werde. Verbrecherisch, menschenverachtend und volksverhetzend sei der Krieg, nicht der Protest dagegen, hielten die Aktivistinnen und Aktivisten dem Vorwurf der Staatsanwaltschaft entgegen, die sie wegen Volksverhetzung und Beleidigung belangen wollte. Zur Sicherstellung des Flyers, auf dem ihre Protestaktion angekündigt worden war, fanden polizeiliche Durchsuchungen in linken Buchläden, also an Orten, wo das freie Wort im Mittelpunkt steht, statt.

Dünnhäutig zeigte sich die Staatsgewalt auch im Falle eines Autoren, der sich in der Tageszeitung junge Welt mit den Verhandlungen um die Regierungsbildung in Nordrhein-Westfalen auseinandersetzte. Dabei war die Partei Die Linke von SPD und Grünen aufgrund des nichterfolgten Zugeständnisses, die DDR als "Unrechtsregime" zu verurteilen, regelrecht vorgeführt worden. Der Autor hielt diesem unwürdigen und für die Landespolitik zudem völlig irrelevanten Spektakel das ungeklärte Verhältnis der Parteien, die als rot-grüne Bundesregierung die deutsche Beteiligung am Überfall auf Jugoslawien und am Afghanistankrieg zu verantworten haben, zur deutschen Kriegführung entgegen, indem er schrieb: "An der Berliner Mauer starben 136 Menschen eines gewaltsamen Todes, das ist unmenschlich und verbrecherisch, aber in Afghanistan haben von SPD und Grüne geschickte Mördersoldaten schon deutlich mehr Menschen umgebracht." Das einem Bericht der jungen Welt (28.08.2010) über die Strafverfolgung des Autoren durch die Berliner Staatsanwaltschaft entnommene Zitat markiert eine Grenze der Meinungs- und Pressefreiheit in Deutschland, die schon dort mit strafender Gewalt durchgesetzt werden soll, wo, wie die junge Welt geltend macht, eine Meinungsäußerung "im Kontext einer polemischen Auseinandersetzung mit einer entsprechend scharfen Gegenposition getroffen" wurde. Daß Äußerungen von Politikern, die den Dienst von Grenzsoldaten der DDR an der Mauer als "verbrecherisch" brandmarken, demgegenüber als nicht strafwürdig gelten, bestätigt den politischen Charakter derartiger Anklagen.

Die Freiheit, die Merkel und Gauck meinen, ist eben nicht unteilbar, sondern wird lediglich dort reklamiert, wo sie auf einer Linie mit Interessen liegt, die weder die der hierzulande als überflüssig erklärten noch die der in den Ländern des Südens als "Kollateralschäden" westlicher Interessenpolitik vernichteten Menschen sein können. Die sich in diesen von rassistischen Ausfällen aufgeheizten Tagen jährenden Anschläge des 11. September 2001 wurden zum Anlaß für Vergeltungskriege, die wesentlich zur Eskalation der Spannungen zwischen westlicher und islamischer Welt beitrugen. Wer damals zu bedenken gab, daß die Anschläge Folge eines globalen Gewaltverhältnisses sein könnten, das mit seinen Millionen Opfern von Armut und Krieg maßgeblich für das Aufkommen von Selbstmordattentätern verantwortlich sei, fand kaum ein Forum, auf dem er sich ausbreiten konnte, oder mußte, wie bei einigen etablierten Journalisten in den USA und der EU geschehen, öffentlich Abbitte für diesen Frevel leisten.

Der französische Satiriker Maurice Sinet, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Siné, wurde vom Herausgeber des Satiremagazins Charlie Hebdo, Philippe Val, 2008 entlassen, weil er sich angeblich auf antisemitische Weise über Jean Sarkozy ausgelassen hatte. Siné stellte die später vom dem Sohn des Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy dementierte Behauptung auf, er wolle vor der Trauung mit seiner Verlobten Jessica Sebaoun-Darty, Erbin einer großen Elektronikkette, zum Judentum konvertieren. "Er wird es weit im Leben bringen, dieser Kerl!" hatte Siné über die Heiratspläne des jungen Sarkozy geschrieben und ihm damit indirekt angelastet, aus opportunistischen Gründen zum Judentum übertreten zu wollen. Von seinem Chef vor die Wahl gestellt, sich entweder bei Jean Sarkozy zu entschuldigen oder entlassen zu werden, entschied sich der damals 79jährige Siné für letzteres. Das ersparte ihm nicht, mit Morddrohungen für seine angebliche Judenfeindlichkeit traktiert zu werden.

Der zweifellos fragwürdige Charakter dieser Satire hatte materielle Konsequenzen für ihren Urheber, während der Präsident Frankreichs mit den Roma eine ganze Gruppe der Bevölkerung auf rassistische Weise diskriminieren und sich dabei in guter Gesellschaft mehrerer EU-Regierungen wissen kann. Das Satiremagazin Charlie Hebdo trat unter Herausgeber Val im Streit um die Mohammed-Karikaturen vehement für die Pressefreiheit ein und druckte die umstrittenen Zeichnungen ab. Die damals unter anderem erfolgte Herabwürdigung des Propheten Mohammed als wandelnde Bombe verallgemeinerte den Islam zu einer gewalttätigen Religion, zudem erinnerten die Karikaturen in der physiognomischen Stereotypie der dort dargestellten Selbstmordattentäter an die rassistische Diffamierung von Juden, wie sie im NS-Staat vorgenommen wurde. Absolute Bewertungsmaßstäbe für rassistische Hetze gibt es mithin nicht, Akzeptabilität und Verwerflichkeit provokanter publizistischer Produkte werden letztlich von denjenigen bestimmt, die die Macht haben, ihr Urteil durchzusetzen.

Die Tageszeitung Jyllands-Posten hatte drei Jahre vor ihrem Projekt, die Belastungsgrenze von Muslimen durch die von ihr in Auftrag gegebenen Karikaturen des Propheten Mohammeds auszuloten, eine Serie weit harmloserer Karikaturen über Jesus abgelehnt, die ihr von dem Zeichner Christoffer Zieler angeboten worden waren. Der Herausgeber der Sonntagsausgabe des Blattes, Jens Kaiser, beschied Zieler in einer E-Mail, daß man seine Karikaturen nicht abdrucken wolle, weil sie unter den Lesern voraussichtlich einen Aufschrei der Empörung auslösten. Zieler legte die Karikaturen daraufhin der norwegischen Tageszeitung Dagbladet vor, wo man sie als "unschuldigen Scherz" bewertete. Der zuständige Redakteur präsentierte sie eigens einigen Pfarrern, die sie offensichtlich erheiternd fanden [2].

Die Masse der Folterbilder aus dem irakischen US-Gefangenenlager Abu Ghraib werden von der US-Regierung bis heute unter Verschluß gehalten. Die Veröffentlichung von Bild- und Textdokumenten, die Grausamkeiten westlicher Kriegführung belegen, wird, wenn sie überhaupt zustandekommt, aus angeblichen Sicherheitsgründen mit aller Schärfe verfolgt. Wer die Apparate staatlicher Repression im Interesse der demokratischen Öffentlichkeit mit belastendem Material bloßstellt, muß sich insbesondere dann warm anziehen, wenn er im Inneren des Leviathan zugange ist. Mutige Taten sogenannter Whistleblower, die korrupte und verbrecherische Aktivitäten von Staatsorganen aus Gewissensgründen enthüllen, werden von Merkel und Gauck immer nur dann gewürdigt, wenn sie in sogenannten Unrechtsstaaten erfolgen.

Es ist müßig, die lange Liste der Beispiele für die Doppelbödigkeit des demonstrativen Eintretens für Meinungs- und Pressefreiheit aus den Kreisen der Regierungen westlicher Demokratien fortzuführen. Das Ergebnis ist immer dasselbe - der ideologischen Verabsolutierung der Freiheitsrechte aus herrschender Sicht steht die Vergeblichkeit gegenüber, sich in einer minoritären und unterprivilegierten Position im Ernstfall auf sie zu berufen. Streitbare Kritik bedarf des Mutes, sich gegen dominante, die eigene bürgerliche Existenz gefährdende Interessen zu stellen. Sich als aufrechter Kämpfer für Freiheit und Demokratie durch das Eintreten für Personen zu beweisen, die in Ländern verfolgt werden, die im Visier strategischer Expansion der NATO-Staaten stehen, fällt demgegenüber leicht. Ein diskriminierungsfreies, vom kapitalgebundenen Charakter professioneller Publizistik unbeeinträchtigtes Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit existiert weder in der EU noch in den USA, daran sollte stets erinnert werden, wenn wieder einmal die Fackel der Freiheit entzündet und zur Demokratisierung fremder Länder durchgeladen wird.

Der Spaß an satirischen Spitzen à la Westergaard hält sich denn auch in engen Grenzen, wenn er aus der Position der Schwäche heraus in Anspruch genommen wird. In diesen Fällen treten nicht selten Staatsschutz und Staatsanwalt an die Stelle regierungsamtlicher Lobreden. Artikel, die den aggressiven Charakter antiislamischer Invektiven auf den Begriff westlicher Kriegführung bringen, und Karikaturen, in denen westliche Kriegsherren im Namen von Freiheit und Demokratie millionenfaches Leid erzeugen, sind bestenfalls in so verrufenen wie auflageschwachen Publikationen am linken Rand anzutreffen. Demgegenüber wird das publizistische Bollwerk der Freiheit, die Merkel und Gauck meinen, von Verlagskonzernen und Institutionen verteidigt, die integraler Bestandteil kapitalistischer Herrschaftsicherung und imperialer Geostrategie sind.

Das belegt auch der Blick auf die Jury, die für die diesjährige Verleihung des M100-Sanssouci Medien Preises verantwortlich zeichnet. Aufgelistet auf der Webseite M100 [3] werden unter anderem: Stefan Aust, Ex-Chefredakteur Der Spiegel; Kai Diekmann, Gesamtherausgeber BILD Gruppe; Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender Axel Springer AG; Peter Frey, Leiter ZDF-Hauptstadtstudio; Roger Köppel, Chefredakteur Die Welt; Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur Die Zeit; Andrea Seibel, Stellvertretende Chefredakteurin "Die WELT" / "Berliner Morgenpost; Frank Schirrmacher, Herausgeber Frankfurter Allgemeine Zeitung Fürst Karl zu Schwarzenberg, Außenminister der Tschechischen Republik. Alle Jurymitglieder sitzen im Beirat des Colloquiums, dem der Potsdamer Oberbürgermeister Jann Jakobs vorsitzt und als dessen Stellvertreter Lord George Weidenfeld, eine Kapazität in den neokonservativen Netzwerken der EU, fungiert.

Zu den vielen Ämtern Weidenfelds, der unter anderem enge Beziehungen zur Bertelsmann Stiftung unterhält, gehört auch das Amt des Präsidenten des Londoner Institute for Strategic Dialogue (ISD). Das M100 Sanssouci Colloquium wurde von diesem Think Tank und der Landeshauptstadt Potsdam initiiert, gefördert werden seine Aktivitäten unter anderem vom Auswärtigen Amt. Das ISD ist eng mit der Londoner Finanzindustrie verbandelt und fokussiert seine Aktivitäten auf die Auseinandersetzungen zwischen westlicher und islamischer Welt. In diesem Zusammenhang tritt das ISD auch als Veranstalter von Konferenzen auf, in denen Beamte aus den militärischen und nachrichtendienstlichen Apparaten der EU-Staaten mit Vertretern der Rüstungsindustrien und Zivilgesellschaft zusammentreffen, um Fragen der äußeren Kriegführung und inneren Repression zu erörtern [4].

Wenn also Bundeskanzlerin Merkel inmitten der angespannten Debatte um die rassistischen Thesen eines Sarrazin und die geplante Koranverbrennung in den USA ausgerechnet am Beispiel Westergaards eine Lanze für die Freiheit bricht, während Aktivistinnen und Aktivisten gegen Militarismus, Kapitalismus und Sozialrassismus aus ihrem Munde alles andere als Zuspruch erfahren, dann geht man kaum fehl in der Annahme, daß der neokonservative Klassenkampf von oben in ein neues Stadium aggressiver Durchsetzung getreten ist.

Fußnoten:

[1] http://www.bundesregierung.de/nn_1264/Content/DE/Rede/2010/09/2010-09-08-potsdam.html

[2] http://www.guardian.co.uk/media/2006/feb/06/pressandpublishing.politics

[3] http://www.m100potsdam.org/M100/Medienpreis/idee_start.php

[4] http://www.strategicdialogue.org/

9. September 2010