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KULTUR/0920: Gedenken an muslimische Terroropfer ... am zentralen Problem gezielt vorbei (SB)



Im offiziellen Gedenken an die Opfer der Zwickauer Terrorzelle bekundet Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht nur Mitgefühl mit den Hinterbliebenen, sondern bittet diese auch reumütig um Verzeihung. Dennoch gibt der symbolpolitische Schein lediglich in kurzen Momenten, in denen Angehörige ihrer Bitterkeit darüber Ausdruck verleihen, daß sie anstelle der Mörder selbst zu Objekten polizeilicher Ermittlungen wurden, den Blick frei auf die virulenten Widersprüche, die das Problem rassistischer Verfolgung und Unterdrückung in der Bundesrepublik kennzeichnen. Zum unbequemen Thema einer Rede oder gar zum erklärten Ziel einer Aufarbeitung werden die großen gesellschaftlichen Debatten, in denen Muslime als Subjekte kulturell angeblich zurückgebliebener Gesellschaften regelrecht vorgeführt wurden, ebensowenig wie das politische Interesse an einer Kriegführung, deren kulturalistische Legitimation genuines Produkt weißer, westlicher Suprematie ist.

Während sich die Sicherheitsbehörden bis zur Aufdeckung der beispiellosen Mordserie, deren Opfern die Berliner Gedenkveranstaltung in erster Linie gewidmet war, zum Jagen nicht einmal tragen ließen, sondern ihr umfangreiches apparatives und personelles Arsenal vor allem gegen die radikale Linke und sogenannte Islamisten richteten, schlug die Saat der verwertungseffizienten Zurichtung der Arbeitsgesellschaft ins Kraut anwachsender sozialrassistischer Feindseligkeit. Angeschoben durch die rot-grüne Agenda 2010 brachten die neoliberalen Imperative des "Förderns und Forderns", der "Eigenverantwortung" und "Leistungsgerechtigkeit" eine neue Qualität der Bezichtigung und Rechtfertigungsnot hervor. Anspruch auf vollständige Teilhaberschaft an den Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft sollte nur mehr haben, wer sich dies durch einen produktiven Beitrag zum nationalen Gesamtprodukt verdiente.

Während die für die kapitalistische Reproduktion Überflüssigen einer sozialen Exklusion zum Opfer fielen, die ihnen die Stimme schon dadurch nimmt, daß sie kaum mehr über die materiellen Möglichkeiten politischen Engagements verfügen, erntete die bürgerlichen Mitte die Früchte der langjährigen neoliberalen Konditionierung auf Wettbewerb und Konkurrenz um jeden Preis in Form einer die ökonomische Rentabilität des individuellen Lebens verabsolutierenden Selbstgerechtigkeit. Unvermeidliche Begleiterscheinung der im europäischen Kontext wiedererlangten Hegemonie Deutschlands war die Restauration eines als "positiver Patriotismus" unter Preis verkauften Nationalismus, der sich bei der Fußball-WM 2006 mit einer Vehemenz Bahn brach, die alle Anzeichen der Bereitschaft zum tätigen Revanchismus einer einmal mehr zu spät gekommenen und daher nun erst recht chauvinistisch auftrumpfenden Nation trug.

Darin einbezogen wurde die migrantische Bevölkerung am Beispiel besonders erfolgreicher Exponenten wie türkischstämmiger Fußballspieler, während sogenannte Parallelgesellschaften nun erst Recht unter Assimilationsdruck gerieten. Äquivalent zum aktiv zu erbringenden Beweis, nicht einfach nur Mensch, sondern produktiver Bürger zu sein, sollten Muslime alles ihnen genuin und kulturell Eigene für die Vollständigkeit kapitalistischer Vergesellschaftung aufgeben. Ohnehin geschlagen mit einem fast kategorischen Terrorverdacht blieben daher insbesondere jene Migrantinnen und Migranten Ziel rassistischer Anfeindungen, die sich nicht auf demonstrative Weise als deutsche Staatsbürger zu inszenieren verstanden.

Nach Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise trat das islamfeindliche Ressentiment in der sogenannten Sarrazin-Debatte [1] mit der ganzen Wucht notstandsbedingten Handlungsbedarfs hervor. Was diese Entwicklung für die davon betroffene muslimische Minderheit so brisant machte, war die neue Akzeptabilität eines zuvor als rechtsextrem etikettierten Rassismus in der kulturalistisch aufbereiteten Deutungsmacht liberaler Werte, die "den Islam" in Aberkennung seiner heterogenen Vielfalt ihrerseits als totalitär brandmarkte. Zwar war das neokonservative Schmähwort vom "Islamofaschismus" bereits zuvor zur Legitimation des Globalen Kriegs gegen den Terrorismus eingesetzt worden, doch gelangte dieser demagogische Anwurf hierzulande nicht in den Stand einer selbstverständlichen Begrifflichkeit. Mit der die Zukunft der herkunftsdeutschen Mehrheitsbevölkerung düster illuminierenden Niedergangsprognose Sarrazins jedoch erlangten kulturalistische Islamfeindlichkeit und sozialchauvinistische Suprematie den Status des allemal salonfähigen Vorwurfs, Menschen aus dem islamischen Kulturkreis seien für die Erfordernisse der hochproduktiven Leistungsgesellschaft der Bundesrepublik zu rückständig, zu eigensinnig und nicht intelligent genug.

Demgegenüber feierte ein auf kapitalistische Verwertungs- und Rationalisierungslogik verkürzter Freiheitsbegriff Urständ, der seine sozialrassistische Feindseligkeit hinter der Verabsolutierung des liberalen Werteuniversalismus zur normativen Leitkultur zu verbergen verstand. Diese Freiheitsrhetorik, die in den neokonservativen Ideologieschmieden US-amerikanischer Globalhegemonie zur Achse der Legitimation neuer Aggressionskriege gekürt wurde, prägt den Herrschaftsdiskurs bis heute, wie ein genauerer Blick auf die Reden der Bundeskanzlerin belegt [2]. So ist auch der schwülstige Antikommunismus eines Joachim Gauck, der sich noch im November gegen einen Staatsakt für die Opfer der Zwickauer Terrorzelle aussprach, nicht so weit entfernt von der Islamfeindlichkeit eines Geert Wilders oder der Nutzer einschlägiger, als "islamkritisch" firmierender Internetportale. Hier kommt zusammen, was zusammen gehört. Betrachtet man die jüngere Entwicklung neoliberaler und neokonservativer Ideologie aus der Perspektive kapitalistischer Klassenherrschaft, dann zeigt sich, daß der Sozialrassismus der Eliten sich meist zweier Feindbilder, dem der Linksradikalen und dem der Muslime, bedient.

Ausschließlich als Mahnung gegen den Rechtsextremismus konzipiert war die Berliner Gedenkveranstaltung denn auch frei von jeglicher Kritik am sozialrassistischen Charakter eines arrivierten Bürgertums, das über Menschen, die seinen kulturellen, ökonomischen und habituellen Normen nicht entspricht, mit leichter Hand das schwerwiegende Urteil quasi erbbiologisch verankerter Delinquenz fällt. Diese im Unterschied zum Rassenhaß der modernen Faschisten stets vornehm und moderat daherkommende Verächtlichkeit schlägt sich in selektiven Praktiken von eindeutiger Stoßrichtung nieder. Die verhaltenen Reaktionen der Meinungsführer in Politik und Medien auf die aus rassistischem und frauenfeindlichem Haß erfolgte Ermordung Marwa El-Sherbinis in einem Dresdner Gerichtssaal im Juli 2009 und die Verharmlosung des Norwegers Anders Behring Breivik, der zwei Jahre später aus politischen Gründen 77 Menschen ermordete, darunter vor allem Mitglieder einer linken, palästinasolidarischen Jugendorganisation, als "Attentäter" belegen neben zahlreichen Anschlägen auf Moscheen und anderen rassistischen Morden die starke Abneigung der staatstragenden Funktionseliten, die weitreichende Handlungsvollmachten erwirtschaftende Kategorie des Terrorismus unabhängig davon anzuwenden, ob es sich bei den Tätern um Christen, Muslime, Juden, um Rechts- oder Linksradikale handelt.

Die ganze Irrationalität der im Terrorkrieg erhobenen Behauptung, man schütze die Freiheit, indem man Kriege gegen Menschen führt, die auf die eigenen zivilisatorischen Errungenschaften so neidisch wären, daß sie sie vernichten müßten, kehrt heute in der Ambivalenz westlicher Regierungen zurück, Bündnisse mit als islamistisch ausgewiesenen Kräften zu schließen, um die im Umbruch befindlichen Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens unter Kontrolle zu behalten, oder unisono mit Al Qaida den Sturz der syrischen Regierung zu unterstützen. Westliche Hegemonialpolitik ist ganz und gar pragmatisch, wenn es um die Wahrung eigener Vorteile geht, wie auch die Kollaboration mit der türkischen Regierung bei der Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung belegt. Das hindert ihre Sachwalter nicht daran, gegen Muslime gerichteten Rassenhaß im Internet zu dulden, obwohl Personen, die im gleichen Wortlaut gegen Juden hetzten, in kürzester Zeit zum Ziel strafrechtlicher Maßnahmen würden. Wohin der Mensch, der sich gerne stimmiger moralischer Prinzipien vergewisserte, auch blickt, er stößt auf einen Wildwuchs an Diffamierung und Demagogie, deren gemeinsamer Nenner noch am ehesten dort bestimmt wird, wo der soziale Krieg eindeutige Frontverläufe eröffnet. Es macht also durchaus Sinn, die Frage der gegen Minderheiten verübten Gewalt nicht nur identitär zu stellen, sondern im Klassencharakter dieser Auseinandersetzung Potentiale solidarischen Handelns zu entdecken. Vielleicht könnten diese sogar dazu geeignet sein, die aus Ideologien und Religionen schöpfende Feindschaft zwischen Menschen aufzuheben.

Fußnoten:

[1] BERICHT/052: Dreikönigstreffen mit Sarrazin ... vom Diskurs zum Tribunal (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prber052.html
INTERVIEW/066: Sarrazins Islamfeindlichkeit - Die Sicht der Betroffenen (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0066.html


[2] KULTUR/0860: "Mut zur Freiheit" ... niemals ungeteilt, niemals unbewaffnet (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0860.html
HERRSCHAFT/1564: Demokratie Fehlanzeige ... "Freiheit" zu exekutiver Ermächtigung (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1564.html


23. Februar 2012