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KULTUR/0978: Günter Grass ... vom Abgesang auf gesellschaftskritische Literatur (SB)



Läßt man die Nachrufe auf den am Montag verstorbenen Literaturpreisträger Günter Grass Revue passieren, dann schält sich eine immer wieder anzutreffende Aufspaltung der Bewertung seines Lebenswerkes in literarische Errungenschaften und politische Fehltritte heraus. Während Romane wie "Die Blechtrommel" fast unisono als des ihm verliehenen Nobelpreises würdig gerühmt werden, wird insbesondere der späte Grass als Kommentator des politischen Zeitgeschehens ins Abseits ideologischer Borniertheit oder gar antisemitischer Verwerflichkeit gerückt. Letzteres kann nur erstaunen, wurde dem Lübecker Autoren doch zum Teil von denselben Kritikern vorgeworfen, uneingedenk entlastender Differenzierungen an der These von der deutschen Kollektivschuld festzuhalten. Der Vorwurf, nicht zwischen zeitgemäßer Kritik an der Besatzungspolitik Israels und dem von einem deutschen Staat begangenen Genozid an den Juden Europas zu unterscheiden, trifft in seinem Fall nicht zu. Um so mehr kann seinen Kritikern eine herrschaftsstrategisch motivierte Relativierung deutscher Verantwortung für den Holocaust angelastet werden [1].

Der Vorwurf, als moralische Instanz ausgedient zu haben, weil sich "eine Gestalt des ideologischen 20. Jahrhunderts" (Der Tagesspiegel) wie er überlebt habe, Günter Grass nachzusagen, "zu viel Politik in seine Texte gewebt" (Volksstimme) und sie damit dem Vergessen überantwortet zu haben, und zu behaupten, daß jüngere Autoren "vor allem als Literaten wahrgenommen werden" wollen und "nicht als Meinungsmacher, die von oben herab sagen, wie es geht" (Hannoversche Allgemeine Zeitung), ventiliert vor allem Erleichterung darüber, daß mit streitbaren Interventionen seiner Art nun nicht mehr zu rechnen ist. Es sei "in Ordnung, wenn die Rolle der moralischen Instanz nicht wieder besetzt wird", konstatiert das letztgenannte Blatt und meint damit nicht, daß Moral als Antidot historisch-materialistischer Kritik für emanzipatorisches Denken kontraindiziert ist.

Nein, man ist sich einig darin, daß kontroverse Debatten im öffentlichen Raum der Massenmedien verzichtbar sind, sorgen doch die Regulative neoliberaler Marktwirtschaft und die Sachzwänge der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft dafür, daß die vertikale Ordnung dieser Klassengesellschaft zugunsten ihrer Nutznießer gewahrt bleibt. Wo Literaten einst ein Herz zur Gesellschaftskritik im Grundsätzlichen faßten, soll die Mutlosigkeit einer Terminologie Einzug halten, die sich auch am Beispiel Günter Grass mit der Vokabel "umstritten" (Lübecker Nachrichten) jeder Einmischung in den gesellschaftspolitischen Streit enthält. Zornige Stellungnahmen zur Unterwerfung Griechenlands unter das Spardiktat der Troika [2], die menschenfeindliche Asylpolitik der Bundesrepublik oder die Kollaboration deutscher Regierungen mit der brutalen Repression oppositioneller Menschen in der Türkei [3] werden von den Konzernmedien und dem staatsnahen Rundfunk lieber unter den Tisch gekehrt, als daß diese ernsthaft daran interessiert wären, auch nur moralisch argumentierenden Einsprüchen zu konkreter politischer Wirksamkeit zu verhelfen.

Während unbequeme Einsprüche des Nobelpreisträgers durch affirmativ in ihr Gegenteil verkehrte Ideologiekritik niedergemacht werden, entfallen Hinweise auf den staatstragenden und herrschaftskonformen Charakter seines politischen Standortes fast völlig. Wer wollte ihm schon anlasten, daß sein größtes Versagen als Kritiker herrschender Verhältnisse darin bestand, ein unbelehrbarer Sozialdemokrat geblieben zu sein? Daß er eisern von Willy Brandt bis Sigmar Gabriel an einer SPD festhielt, die vieles von dem, was er scharf kritisierte, mittrug oder verursachte, könnte Anlaß sein, die Bruchlinien am einsturzgefährdeten Sockel seiner moralischen Autorität zu verbreitern. Dies jedoch nicht, um eine der letzten prominenten Stimmen, die gesellschaftliche Mißstände breitenwirksam anprangerten, vollends mundtot zu machen, sondern um öffentlich wahrnehmbare Kritik vom Kopf wertegestützter Imperative, die als demonstrativer Ausweis bürgerlicher Anständigkeit befördern, was sie zu bekämpfen vorgeben, auf die Füße einer Gesellschaftskritik zu stellen, die das kapitalistische Gewaltverhältnis zu erschüttern vermag.


Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0927.html

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0932.html

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0977.html

14. April 2015


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