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KULTUR/0981: Von der Zweckbindung kultureller Freiheit ... (SB)



Die Absage des Fußballspiels zwischen Deutschland und den Niederlanden in Hannover aufgrund von Sicherheitsbedenken hat eine breite Debatte um das Für und Wider derartiger Entscheidungen ausgelöst. Zwar scheint man sich einig darüber zu sein, daß die Möglichkeit eines Anschlags eine solche Maßnahme rechtfertigt, oder zeigt sich zumindest einverstanden mit der Sprachregelung des Bundesinnenministers, der keine Details nennen wollte, weil dies einen Teil der Bevölkerung "verunsichern" könnte. Sicherheit ist eben Trumpf, auch und gerade dann, wenn sie durch Unwissenheit garantiert wird. Doch der Tenor dessen, daß man sich seine Freiheit im Angesicht terroristischer Mordtaten nicht nehmen lassen wolle, tritt gerade an dieser Stelle mit einer Vehemenz hervor, die fragen läßt, was gerade an hochkommerziellen Sportevents so unverzichtbar sein soll, daß an ihrer unbehinderten Austragung Wohl und Wehe der Gesellschaft hängt.

Wie die Debatte um das sogenannte Sommermärchen [1] vor dem Hintergrund der DFB-Affäre zeigt, will man sich den Spaß nicht nehmen lassen und auf den integrativen Charakter der Sportunterhaltung nicht verzichten. Daran besteht in der neoliberalen Konkurrenzgesellschaft, in der sich der Mensch über Einkommen und Sozialstatus gegen den anderen definieren soll, großer Bedarf. Zwar hat der Fußball seine proletarische Identität weitgehend eingebüßt, um, wie die Luxuslogen in den Stadien und die exorbitanten Transfersummen für seine Stars zeigen, ein Spiegelbild der kapitalistischen Klassengesellschaft am Spielfeldrand zu etablieren. Gerade weil dies von den Fans so gut angenommen wird und viele Hooligans das Geschäft der Herrschenden verrichten, indem sie zu Kulturkriegern gegen Islam und nichtwestliche Migrantinnen avancieren, bleibt das die Bundesligastädte regelmäßig in Ausnahmezustand versetzende Sportspektakel so unverzichtbar.

Ganz anders ist dies bei politisch motivierten Kulturereignissen. So wurde der bekanntesten linken Musikgruppe der Türkei, Grup Yorum, die Einreise in die Bundesrepublik verwehrt, um ein für den 14. November in Oberhausen geplantes Jubiläumskonzert zu verhindern [2]. Daß dies nicht gelang, sondern statt der erwarteten 15.000 Besucherinnen und Besucher dennoch mehr als die Hälfte kamen, um mit anderen Musikerinnen und Musikern Solidarität mit Grup Yorum zu bekunden, ändert nichts daran, daß der Gruppe, die noch vor wenigen Monaten in der Bundesrepublik gastierte, auch in Zukunft keine Einreise mehr ermöglicht werden soll.

Die Verweigerung der Visa für Grup Yorum erfolgte vor den Anschlägen von Paris, in deren Folge die Bundesregierung nicht müde wird, die Verteidigung "unserer Freiheit" zu beschwören. Ein Konzert gegen Rassismus, das in Oberhausen zum 30jährigen Bandjubiläum stattfinden sollte, gehört offensichtlich nicht zu dieser Freiheit. Wenn die türkische und kurdische Linke feiern will, wird spätestens seit dem Treffen von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Präsident Recep Tayyip Erdogan Terrorverdacht geäußert. Zwar gibt es dazu, wie auch frühere Konzerte Grup Yorums in der Bundesrepublik [3] belegen, nicht den geringsten Anlaß. Ganz im Gegenteil, angesichts der massiven Verfolgung linker säkularer Kräfte in der Türkei durch die AKP-Regierung und der terroristischen Angriffe des IS [4] auf sie wäre die Unterstützung fortschrittlicher Kräfte im Sinne des von der Bundesregierung beanspruchten Schutzes der Menschenrechte allemal geboten. Wenn auch nur ein Körnchen Wahrheit an der unterstellten Wertschätzung demokratischer Freiheiten dran wäre, müßten Kulturereignisse, in denen die migrantische Linke gegen den Rassismus der Islamhasser und rechten Brandstifter ansingt, uneingeschränkt möglich sein.

Statt dessen wird eine repressive Staatsschutzachse zwischen Ankara und Berlin etabliert [5], die an die Zusammenarbeit zwischen BRD und türkischen Militärregimes erinnert. Obwohl in der Türkei tausende politische Gefangene in den Knästen sitzen und die AKP-Regierung Krieg gegen einen Teil der Bevölkerung führt, und dort die Freiheit des Wortes praktisch außer Kraft gesetzt wurde, indem insbesondere linke Journalistinnen und Journalisten etwa wegen "Beleidigung des Staatspräsidenten" inhaftiert werden oder ihre berufliche Existenz durch Eintragung in eine schwarze Liste zerstört wird [6], nehmen deutsche Behörden unbelegbare und unergründliche Behauptungen türkischer Geheimdienste in Anspruch, um linke Aktivistinnen und Aktivisten nicht nur in der Bundesrepublik, sondern EU-weit zu verfolgen.

Dies zeigt allerdings, wie dringend geboten die Aufrechterhaltung sportlicher und andersweitig von sozialen Konflikten ablenkender Massenveranstaltungen ist. Das Anwachsen rechter Militanz und rassistischer Feindseligkeit könnte das unterentwickelte Potential emanzipatorischen Widerstandes gegen die offenkundige Instrumentalisierung fremdenfeindlicher Ressentiments durch die Funktionseliten in Staat und Kapital aktivieren, wenn einer dieses Ziel verfolgenden Linken freier Lauf gelassen würde. Daß die schon länger in der Bundesrepublik aktive migrantische Linke durch die neuankommenden Geflüchteten verstärkt werden könnte, ist ein Schreckensszenario für pegidistische Kreuzritter wie für den durch sozialen Widerstand ungestörten Frieden der Paläste. Welche Freiheit [7] durch die Politik der Bundesregierung auf dem Spiel steht, Unterstützung für die Flüchtlingsabwehr der Festung Europa bei brutalen Autokraten zu suchen - was diese nicht davor schützt, bei einem Wechsel der politischen Großwetterlage auf dem Altar der Wertegemeinschaft geopfert zu werden -, wird der hiesigen Bevölkerung möglicherweise erst klar werden, wenn sie ihr bereits genommen wurde.


Fußnoten:

[1] HERRSCHAFT/1717: Winterskälte im Land des "Sommermärchens" (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1717.html

[2] http://www.linkezeitung.de/index.php/inland/veranstaltungen/5169-grup-yorum-konzert-fand-trotz-einreiseverbot-der-musiker-erfolgreich-statt

[3] BERICHT/023: Grup Yorum - musikvereinte Linke (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0023.html

[4] KRIEG/1648: Stufenleiter der Eskalation gegen Linke (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/volk1648.html

[5] Der lange Arm Erdogans
https://www.jungewelt.de/2015/11-17/015.php

[6] Die Pistole an der Schläfe
https://www.jungewelt.de/2015/11-19/056.php

[7] KRIEG/1649: Angriff auf die Freiheit ...? (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/volk1649.html

19. November 2015


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