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KULTUR/0983: Fitneß-App - Sozialkontrolle selbstgemacht ... (SB)



"Erkenne dich selbst!" Was einst als Forderung an die Befreiung des Menschen aus naturhafter Unbewußtheit und sozialer Unmündigkeit verstanden wurde, wird heute durch den Blick auf die Fitneß-App übererfüllt. Die dort dokumentierten Werte physischer Befindlichkeit verraten alles über den Menschen, der sie generiert, an eine Instanz, die verspricht, dem Probanden desto mehr zu nutzen, als er sich bedingungslos ihrer grenzenlosen Datenakkumulation unterwirft. Die Popularität dieser Form von Selbsterkenntnis verrät, daß Fragen zum eigenen Dasein oder der individuellen Vergesellschaftung keiner Antwort mehr bedürfen, weil diese von den Agenturen gesellschaftlicher Sinnstiftung längst gegeben und vom Ende des Kampfes um nie eingelöste Sozialutopien versiegelt wurden. Etwaige Probleme, die sich aus den Ergebnissen des Selftracking ergeben könnten, bewegen sich in mehr oder minder großen Ausschlägen um die Achse vermeintlicher Idealwerte und sind dementsprechend an diese anzugleichen. Die erforderliche Schrittzahl erreicht, die zugestandene Kalorienmenge nicht überschritten, die Zahl der zu schlafenden Stunden eingehalten und bei den Herz-Kreislaufwerten den grünen Bereich getroffen zu haben ist etwas, das im Unterschied zu unbescheidenen Freiheits- oder Gerechtigkeitsidealen tatsächlich erreicht werden kann.

Mit der Angleichung aller Lebens- und Sterbenslagen an den Leistungsindex gesellschaftlicher Brauchbarkeit ist der Mensch so umfassend beschäftigt, daß kaum noch Platz bleibt, über den Horizont der herrschenden Verwertungsideologie hinauszublicken, geschweige denn -zugehen. Unter dem Kommando der Deutungsmacht, die sich aus der Verallgemeinerung psychophysischer Verhaltens- und Leistungsparameter speist, anhand derer der einzelne Mensch seine Integrationsbereitschaft zu beweisen hat, ist die Haltlosigkeit einer Freiheit, die keiner weiteren Bestätigung bedarf, weil sie sich keiner ihr fremden Instanz oder Norm unterwirft, mit Angst und Furcht besetzt. Als das schlechthin Böse nimmt die unteilbare und unbeherrschbare Subjektivität sozialen Widerstands auf antagonistische Weise Form und Gestalt an, was erklärt, wieso Kommunismus, Klassenkampf und andere Begriffe des Bruches mit Unterwerfung und Unterdrückung in der öffentlichen und medialen Wahrnehmung so negativ besetzt sind.

Welches "Selbst" tritt beim Selftracking, der informationstechnischen Erfassung und Auswertung individueller Lebenspraxis, in Erscheinung? Das virtuelle Konglomerat aus Personen-, Verbrauchs- und Leistungsdaten dient dem statistischen Abgleich des einzelnen Menschen mit jeder beliebigen Vergleichsgruppe zu jedem nur denkbaren Zweck sozial- und gesellschaftspolitischer Intervention. Das bei der möglichst lückenlosen Bemessung individueller Aktivitäten entstehende Datenprofil hat ohne seine administrative Bewirtschaftung keinerlei Bedeutung, das gilt auch für den angeblich so großen Nutzen gesundheitlicher Evaluation. Ob der Mensch zu viel oder zu wenig ißt, ob er sich genügend bewegt und lang genug schläft, bedarf keiner Beobachtung und Bewertung durch Experten. In Anbetracht der kaum in Anspruch genommenen Intelligenz der eigenen Physis führt die Orientierung an objektivierbaren Gesundheitsnormen eher zu anwachsender Entfremdung, als daß sie den Menschen zu einer Freiheit befähigte, die keiner gesellschaftlichen und politischen Stellvertretung bedarf.

Der neoliberalen Bezichtigungslogik gemäß, daß jeder selbst an seiner Misere schuld sei, blendet die psychophysische Objektivierung des Menschen die vielfältigen Bedingungen und Widersprüche seiner Vergesellschaftung aus. Krank wird er nicht durch die Unterwerfung unter fremdbestimmte Arbeit, die Ernährung mit industriell produziertem Junkfood oder die sozialdarwinistische Matrix, die sein Leben bis in die persönlichen Beziehungen hinein vergiftet. Krank wird er im Sinne einer "Eigenverantwortung", deren Eigentumsanspruch synonym zum gesellschaftlichen Lehen des "Selbst" bloßer Platzhalter dadurch artikulierter Fremdinteressen ist, durch persönliches Fehlverhalten. Bilanziert wird die Abweichung von einer Norm, die niemand vollständig erfüllen kann, weil sie als aus den Unzulänglichkeiten und Mängeln gesellschaftlicher Existenz destilliertes Ideal die Unberührbarkeit der Maßstäbe und damit das letzthin Gute repräsentiert, als Bringschuld gegenüber dem Kollektiv, das das gesellschaftliche Gesamtprodukt erwirtschaftet. "Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt und müssen nun den Gürtel enger schnallen" - die Ratio der Austeritätspolitik kennt keine Klassen, sondern nur Volk, Staat und Nation.

Diesen Instanzen eines vermeintlichen Gesamtinteresses, das als in sich gebrochenes Gewaltverhältnis zu durchschauen nur denjenigen möglich ist, die sich seiner Verfügungsgewalt widersetzen, gegenüber rechenschaftspflichtig zu sein, vertieft die Herrschaft über den einzelnen Menschen und treibt ihn immer tiefer in die Isolation. Sich durch in Echtzeit produzierte Leistungsdaten und ihre Einspeisung in die Datenbanken des medizinaladministrativen Komplexes auf nie gekannte Weise bemeß- und vergleichbar zu machen, erschöpft seinen Nutzen denn auch nicht in der erweiterten Ökonomisierung der Krankenversicherten durch individuelle Risikoevaluation und daran angepaßte Krankenkassenbeiträge. Es ist die Herrschaft der Maßstäbe selbst, die zu Unterwerfung unter und Einspeisung in die große Maschine der Arbeitsgesellschaft zwingt. Das von der Fitneß App bemessene Selbst verkörpert die Allgewalt der Normen und Werte, die an den einzelnen Menschen angelegt werden. Ihre Objektivierung zum verbindlichen Orientativ individueller Lebensführung soll an die Stelle des verbliebenen subjektiven Interesses treten, dieser in abstrakte Zahlen und Verhältnisse gefaßten Anmaßung gegenüber unteilbar und unbeherrschbar zu sein.

Wer meint, mehr Kontrolle über sein Leben zu erlangen, indem er die Zurichtung auf die Leistungs- und Verbrauchsforderungen der Käufer seiner Arbeitskraft unter dem Titel der "Selbstoptimierung" in vorauseilendem Gehorsam betreibt, zeigt, daß sich hochentwickelte Sozialkontrolle kaum effizienter durchsetzen läßt als durch die Kolonialisierung letzter Reste einer Subjektivität, die noch nicht durch das räuberische Interesse, zu Lasten von Mensch und Natur zu überleben, vereinnahmt wurde. So in Form gebracht soll der rundum informierte Mensch genau das tun, was von ihm erwartet wird. Jegliche Abweichung davon wird durch das etablierte Schuldverhältnis, das durch die exorbitante Verschuldung aller öffentlichen Haushalte verifiziert wird, ins Minus einer Moral gesetzt, die das zentrale Vermittlungsmedium gesellschaftlicher Kommunikation bleibt.

Niemand will wirklich wissen, daß der Schmerz des anderen immer auch der eigene und damit, fernab jeglicher moralischen Verhandelbarkeit, unteilbar ist. Das Schuldeingeständnis der Unterwerfung unter die paternalistische Gewalt wissenschaftlich fundierter Verhaltenskontrolle [1] setzt voraus, die moralischen Imperative sozialer Konkurrenz nicht in Frage zu stellen. Auf die unkontrollierbare und unbeherrschbare Haltlosigkeit subjektiver Freiheit zu verzichten, ist der Preis der Zugehörigkeit zu einer "Risikogesellschaft", deren Kalkül geschäftlichen Erfolges der Mut praktischer Ermächtigung jederzeit einen Strich durch die Rechnung machen kann.


Fußnote:

[1] HERRSCHAFT/1710: Liberaler Paternalismus - kein Widerspruch in sich ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1710.html

20. Februar 2016


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