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KULTUR/1020: Wer altert schneller ... die Rolling Stones oder ihre Kritiker? (SB)



Schon wieder ein Aufreger für Hamburg. Die Rolling Stones kommen, und alle gehen hin. Für NDR-Kommentator Stephan Fritzsche hat die "immer gleiche Leier" etwas Anrüchiges, denn "würdiger ist es nicht mehr geworden." [1] Rockmusik im Alter, geht das? Sich auf der Bühne produzieren wie ein Jugendlicher, während im Hintergrund der Leibarzt die Blutdruckwerte überwacht, die Rollatoren im Publikum und die Hörgeräte an den Ohren immer zahlreicher werden - wer will denn so etwas?

Offensichtlich zahlreiche Fans, die die zum Teil astronomischen Ticketpreise von bis zu 680 Euro ebensowenig abschrecken wie das womöglich regnerische Wetter im Hamburger Stadtpark. 82.000 Stones-Fans können nicht irren und stecken die veritable Altersdiskriminierung, die zum guten Ton beim Ablästern über das Event gehört, ebenso weg wie die Peinlichkeit, von den vergilbten Träumen einstiger Aufbruchstimmung zu zehren oder einem Mythos nachzulaufen, der seine Wurzeln in den ersten 15 Jahren einer Bandgeschichte von nunmehr 55 Jahren hat. Spätestens 1977 waren die Stones von ihrer musikalischen Kreativität her am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt, seitdem rotiert die Maschine mit dem frechen, die Zunge austreckenden Bandlogo auf zwar gut geölte Weise, musikalisch jedoch in eine absehbar und öde gewordene Endlosschleife gebannt vor sich hin.

Sich an dem nicht minder verklärten Mythos einer stets jung und frisch zu inszenierenden Popkultur abzuarbeiten und den alten Herren wie ihrem ergrauten Publikum die kulturelle Relevanz abzusprechen, weil Senioren nun einmal anderes zu tun hätten als die plötzlich gar nicht mehr so fragilen Hüften zum Beat von Brown Sugar zu schwingen oder bei Gimme Shelter die unversehens leicht gewordenen Arme hochzureißen, ist dem schlichten Unverständnis einer Konsumkultur geschuldet, in der die Totalität marktwirtschaftlichen Wettbewerbs alles unsichtbar macht, was nicht mit einem Preis zu beziffern ist. Für nicht an klar definierten Zweck- und Nutzenbezügen ausgerichteten Lustbarkeiten ist kein Platz, wenn der Verbrauch von Kulturgütern genauso effizient und zielführend organisiert sein will wie der Business Plan, der am Morgen danach zu erarbeiten ist.

Selbstverständlich geht das Geschäftsinteresse der unerschütterlich rollenden Steine auf, wenn sie, wie der Veranstalter unter dem Punkt "Zaungäste" [2] mitteilt, in einem Veranstaltungsgelände auftreten, das "weiträumig und doppelt umzäunt" ist, will man doch dem zahlungsunfähigen oder -unwilligen Publikum von "keiner Stelle des Stadtparks aus die Möglichkeit geben, einen Blick auf das Konzertgeschehen zu bekommen." It's capitalism, stupid, was hast denn du gedacht, wofür die prominentesten Dinosaurier des Rock-Entertainments stehen? Vielleicht einmal zu erwähnen, daß die Stadt den aus aller Welt anreisenden Gegnern des G20-Gipfels zwei Monate zuvor nicht gestattete, im Stadtpark ein Camp zu errichten, um Zehntausende Menschen für diesen wichtigen Akt des basisdemokratischen Protestes unterbringen zu können und damit einen Freiraum für internationale Begegnungen, für Diskussionen, Seminare und Aktionstrainings zu bieten, während nun Zehntausende Rockfans und die Infrastruktur des Konzerts das Gelände belasten dürfen, ist allerdings zu viel verlangt.

Bleibt zu erwähnen, daß der Nachruhm der Stones begründetermaßen von überlebensgroßer Statur ist. Wer sich in eine aus Zahlungszwang formierte Kontrollsphäre begibt, um am lebendigen Beispiel die Flüchtigkeit und Vergeblichkeit eigenen Werdens und Vergehens Revue passieren zu lassen, sucht etwas durchaus Substantielles. Unverwechselbar am Mythos der Band und damit nicht in Tauschwertkategorien zu bemessen sind die Rudimente einer verlorengegangenen Erinnerung an das, was die 1960er Jahre den damals aufwachsenden Menschen bedeuteten. Diese verblühten Träume im heutigen Auftreten der Stones zu verorten mag auf den öffentlich-rechtlichen Kulturbürokraten und den distinktionssicheren Bourgeois wie eine lächerliche und skurrile Narretei wirken, doch liegt darin auch die Antithese zu einer Kultur des ökonomisch von vorne bis hinten rechenbaren, in seiner Zweckform von aller unkalkulierbaren Vitalität bereinigten Verbrauchs.

Bis an Bahre und Urne heran vom Vitalfaktor Rock 'n' Roll zu zehren ist sicherlich nicht die unerfreulichste und eine in keiner Weise unwürdige Obsession. Wer sich am Abgeschmackten des Warencharakters dieser Musik stört, macht sich offenkundig etwas über die kulturindustrielle Zurichtung auch abseitiger und avancierter Nischen künstlerischer Produktivität vor. Wer sich vor älteren Menschen ekelt, die nicht still und leise abtreten wollen, hat dazu noch ein massives Problem mit der eigenen Zukunft und Gegenwart.


Fußnoten:

[1] https://www.ndr.de/unterhaltung/Pro-und-Kontra-Rolling-Stones-im-Stadtpark,rollingstones262.ht

[2] http://www.fkpscorpio.com/de/stones-hamburg

9. September 2017


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