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KULTUR/1022: Der kalte Blick der Selektion (SB)



Am 11. Oktober 1947 veröffentlichte der Turiner Verlag De Silva die Erstausgabe des Buches Se questo è un uomo. Verleger Franco Antonicelli hatte die Bedeutung des Buches, in dem Primo Levi seine Erlebnisse im Konzentrationslager Auschwitz schildert, im Unterschied zu zwei größeren Verlagen wohl erkannt. Der geschäftliche Erfolg blieb jedoch aus, von 2500 gedruckten Exemplaren wurden lediglich 1500 verkauft. Erst als der renommierte Verlag Einaudi, der das Buch zuerst abgelehnt hatte, es zehn Jahre später mit großem Erfolg herausbrachte, wurde zur Kenntnis genommen, daß Levi das System der Vernichtung im Arbeitslager Auschwitz-Monowitz mit entlarvendem Blick auf die Abgründe menschlichen Nutzendenkens zu Papier gebracht hatte. 1959 auf englisch unter dem Titel If This Is a Man zu weltweiter Berühmtheit gelangt und 1961 als Ist das ein Mensch? in die Sprache der Täter übersetzt, hat Levi ein Zeugnis antisemitischen Rassenhasses hinterlassen, in dem die kalte Ratio kriegsindustrieller Produktion mit der nicht minder eisigen Logik der Selektion von Menschen in brauchbares und zu tötendes Leben eine zum Zwecke des sozialdarwinistischen Überlebens um jeden Preis höchst fruchtbare Verbindung einging.

Denn zwischen Menschen hat es einen solchen Blick nie gegeben. Könnte ich mir aber bis ins letzte die Eigenart jenes Blickes erklären, der wie durch die Glaswand eines Aquariums zwischen zwei Lebewesen getauscht wurde, die verschiedene Elemente bewohnen, so hätte ich damit auch das Wesen des grossen Wahnsinns im Dritten Reich erklärt. Was wir alle über die Deutschen dachten und sagten, war in dem Augenblick unvermittelt zu spüren. Der jene blauen Augen und gepflegten Hände beherrschende Verstand sprach: "Dieses Dingsda vor mir gehört einer Spezies an, die auszurotten selbstverständlich zweckmäßig ist. In diesem besonderen Fall gilt es festzustellen, ob nicht ein verwertbarer Faktor in ihm vorhanden ist."
Primo Levi - Ist das ein Mensch? [1]

Mit diesem Blick befindet der wissenschaftliche Leiter der chemischen Abteilung des Lagers Auschwitz-Monowitz, Dr. Pannwitz, über Leben und Tod des Häftlings mit der Nummer 174517. Vom Fachwissen des als Chemiker ausgebildeten italienischen Juden hängt ab, ob er gleich ermordet wird oder sich dem Tod erst einmal durch eine Arbeitsstelle in dem zum Konzern I. G. Farben gehörigen Buna-Werk des Lagers vorerst entziehen kann. Levi überlebt Auschwitz, denn er ist für die deutsche Kriegsindustrie verwertbar, doch seines Lebens niemals sicher, wie das Beispiel eines anderen Häftlings, der über besondere Fähigkeiten verfügt, zeigt.

Der für die Texte in Deutschland außerordentlich beliebter Schlager wie "In der Bar zum Krokodil", "Ausgerechnet Bananen", "Ich hab' mein Herz in Heidelberg verloren" oder "Dein ist mein ganzes Herz" verantwortlich zeichnende Wiener Jude Fritz Löhner-Beda wurde am 4. Dezember 1942 von SS-Schergen erschlagen, nachdem einige I.G.-Farben-Direktoren seinen zu geringen Enthusiasmus beim Verrichten der Zwangsarbeit bemängelten. Einer von ihnen verlangte, daß, wer nicht mehr arbeiten könne, in der Gaskammer verrecken solle, und dieser Aufforderung zur Beseitigung "unproduktiven" Lebens wurde umgehend Folge geleistet. Zeugnis von Löhner-Bedas Häftlingsschicksal legt auch das von ihm verfaßte Buchenwaldlied ab, das sich allerdings weit geringerer Bekanntheit erfreut als die von ihm verfaßten Evergreens der guten Laune.

Mit der Beschreibung des Aquariumblicks des Dr. Pannwitz traf Primo Levi eine elementare Aussage zum Gewaltverhältnis zwischen Menschen. Der andere könnte nicht fremder sein als in dem Augenblick, in dem er sich zugunsten des eigenen Überlebens vollständig vom Schicksal des ihm ausgelieferten Menschen trennt und ihn mit tödlicher Konsequenz zum Nichtmenschen erklärt. Distanzierung erweist sich als zentrales Manöver einer Überlebenssicherung, die den anderen Menschen nicht nur alleine läßt, sondern sehenden Auges der größeren Gefahr aussetzt. Im Blick des Dr. Pannwitz tritt das Nutzendenken einer bürgerlichen Vernunft hervor, das auch im diagnostischen Blick des Arztes oder Psychiaters liegen kann. Die Beteiligung deutscher Mediziner an den Verbrechen des NS-Staates bedurfte noch keiner Gesundheitswirtschaft, um dennoch von Kosten-Nutzen-Erwägungen bestimmt zu sein, die ihren diagnostischen Blick nicht trübten, sondern seinem Zweck zuführten.

Am 11. April 1987 stürzte Primo Levi in den Treppenschacht seines Wohnhauses in Turin. Als zwei Tage später Tausende von ihm Abschied nahmen, sagte ein KZ-Überlebender: "Wir haben den Stern, der uns führte, verloren. Wir alle sind jetzt Waisen" [2]. In seinem letzten, 1986 veröffentlichten Buch I sommersi e i salvati, auf deutsch unter dem Titel Die Untergegangenen und die Geretteten erschienen, knüpft er an sein Erstlingswerk an. Er analysiert das für ihn größte Verbrechen der Menschheit vor dem Hintergrund des Historikerstreites in Deutschland und allgemein wieder auf dem Vormarsch befindlicher revisionistischer und neofaschistischer Tendenzen. Im zweiten Kapitel La zona grigia machte er eine Grauzone aus, durch die sich eine "lange Verbindungskette zwischen Opfern und Henkern" ziehe. Schonungslos mit sich selbst und anderen Überlebenden schrieb er unter Verweis auf die "Muselmanen", jene Häftlinge, die so sehr vom Tod gezeichnet waren, daß sie auch von den noch nicht durch Hunger, Versklavung und Mißhandlung völlig ausgelaugten KZ-Insassen gemieden wurden:

Wir Überlebenden sind nicht nur eine verschwindend kleine, sondern auch eine anomale Minderheit: Wir sind die, die aufgrund von Pflichtverletzung, aufgrund ihrer Geschicklichkeit oder ihres Glückes den tiefsten Punkt des Abgrunds nicht berührt haben. Wer ihn berührt, wer die Gorgo erblickt hat, konnte nicht mehr zurückkehren, um zu berichten, oder ist stumm geworden. Vielmehr sind sie, die 'Muselmanen', die Untergegangenen, die vollständigen Zeugen, jene, deren Aussage eine allgemeine Bedeutung gehabt hätte. [3]

Wie tief die Abgründe menschlicher Ignoranz und Brutalität auch reichen, der Naturwissenschaftler und Literat Primo Levi hat sie auf eine Weise ausgelotet, die ideologisch begründeten Positionierungen unverträglich ist. Gerade weil das klare moralische Urteil durch die Macht korrumpiert werden kann, ist die Grauzone für Levi der Aufforderung gleichzusetzen, nicht auf die eindeutige Stellungnahme gegen die davon ausgehende Gefahr zu verzichten. An Aktualität mangelt es seinen Werken, in denen er eindringlich vor einer Wiederholung dieses Verbrechens nun, da es einmal in der Welt ist, warnt, keineswegs.


Fußnoten:

[1] Primo Levi: Ist das ein Mensch? München 1988, S. 112 f.

[2] Manfred Lentzen, Hg: Italienische Romane des 20. Jahrhunderts in Einzelinterpretationen, Berlin 2005, s. 141

[3] Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten, München 1993. Entnommen aus: Agamben, Giorgio. Was von Auschwitz bleibt, 2003, Frankfurt a.M.

11. Oktober 2017


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